Abschiebehaft – und die Untersuchungshaft

Der Beginn der Sicherungshaft darf nicht an das noch nicht feststehende Ende einer laufenden Straf- oder Untersuchungshaft angeknüpft, sondern nur parallel dazu angeordnet werden1. Die Unterbringung eines Drittstaatsangehörigen zur Sicherung der Abschiebung darf gemäß Art. 16 Abs. 1 Satz 2 RL 2008/115 jedenfalls für eine Nacht in der bis zu diesem Tag vollzogenen Untersuchungshaft erfolgen, wenn an dem Tag, an dem die Sicherungshaft angeordnet und sodann die bisher bestehende Untersuchungshaft gegen ihn aufgehoben wird, ein Transport in die weit entfernt liegende (hier: 260 km) Abschiebehafteinrichtung aus sich plötzlich erweisenden momentanen Kapazitätsbeschränkungen nicht mehr erfolgen kann. 

Gemäß § 62a Abs. 1 Satz 1 AufenthG in der bis zum 20.08.2019 und erneut ab dem 30.06.2022 geltenden Fassung als auch nach Art. 16 Abs. 1 RL 2008/115 erfolgt der Vollzug der Abschiebungshaft grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen. Vom 21.08.2019 bis 30.06.2022, mithin auch im hier maßgeblichen Haftzeitraum, bestimmte § 62a Abs. 1 Satz 1 AufenthG (diese Fassung nachfolgend AufenthG 2019) dagegen lediglich, dass Abschiebungsgefangene getrennt von Strafgefangenen unterzubringen seien. Insoweit hat der Gesetzgeber von der in Art. 18 Abs. 1 RL 2008/115 vorgesehenen Ausnahme vom Trennungsgebot nach Art. 16 Abs. 1 RL 2008/115 Gebrauch machen wollen2. Ist nach den in soweit geltenden Grundsätzen3 absehbar, dass der Betroffene rechtswidrig untergebracht werden wird oder untergebracht ist, muss der Haftrichter im Hinblick auf das Gebot einer möglichst wirksamen Anwendung des Rechts der Union (effet utile) die Anordnung von Haft ablehnen4. Dabei ist die durch den Haftrichter vorzunehmende Prüfung auf im Zeitpunkt der Haftanordnung bestehende oder absehbare strukturelle Defizite beschränkt. Kommt es im Einzelfall während des Vollzugs der Sicherungshaft zu einem rechtswidrigen Grundrechtseingriff, berührt dies die Rechtmäßigkeit der Haftanordnung indes nicht. Insoweit muss sich der Betroffene gegen die konkrete Einzelmaßnahme wenden5

Vorliegend konnte für den Bundesgerichtshof dahinstehen, ob der Haftrichter am 19.01.2022 wusste, dass die Betroffene für eine Nacht in der Justizvollzugsanstalt A untergebracht werden würde. Auch dies unterstellt, konnte er nach den obigen Maßgaben nicht absehen, dass dies unzulässig war. 

Es ist unionsrechtlich anerkannt, dass die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Sicherung der Abschiebung in einer gewöhnlichen Haftanstalt gemäß Art. 16 Abs. 1 Satz 2 RL 2008/115 erlaubt ist, wenn es dem Mitgliedstaat etwa aufgrund einer plötzlichen und momentanen Auslastung der Kapazitäten sämtlicher spezieller Hafteinrichtungen unmöglich ist, die mit der Richtlinie 2008/115 verfolgten Ziele zu beachten und dabei gleichzeitig sicherzustellen, dass alle Drittstaatsangehörigen in speziellen Hafteinrichtungen untergebracht werden. In einem solchen Fall darf die Unterbringung in einer gewöhnlichen Haftanstalt zunächst für eine kurze Dauer angeordnet werden, die einige Tage nicht überschreiten und nur dem Zweck dienen darf, dem betreffenden Mitgliedstaat die Möglichkeit zu geben, dringlich Maßnahmen zu ergreifen, damit die Inhaftierung in einer spezialisierten Hafteinrichtung fortgeführt wird6

Im vorliegenden Fall war die Betroffene bis zur Anhörung am 19.01.2022 in der Justizvollzugsanstalt A in Untersuchungshaft – mithin gemäß Nr. 22 UVollZO Bayern von Strafgefangenen getrennt – untergebracht. Die Untersuchungshaft ist am 19.01.2022 erst nach dem Anhörungstermin aufgehoben worden. Die beteiligte Behörde hatte ausweislich des Haftantrags einen Haftplatz in der etwa 260 Kilometer entfernten Abschiebungshafteinrichtung Hof reserviert. Nachdem die Betroffene nach der Anhörung zunächst wieder in die Justizvollzugsanstalt A zurückgebracht und sodann der Untersuchungshaftbefehl aufgehoben worden war, wurde sie am Morgen des 20.01.2022 nach Hof verlegt, weil ein Einzeltransport von der zuständigen Polizeiinspektion noch am 19.01.2022 aus Kapazitätsgründen nicht durchgeführt werden konnte. Vorliegend ergab sich daher – nachdem erst nach Erlass des Haftanordnungsbeschlusses und des die Untersuchungshaft aufhebenden Beschlusses am 19.01.2022 die Notwendigkeit eines Transports eintrat – eine plötzliche und momentane Auslastung der verfügbaren Transportkapazitäten, sodass es unmöglich war, noch am gleichen Tag eine der Richtlinie entsprechende Unterbringung sicherzustellen. Dem steht auch nicht entgegen, dass die beteiligte Behörde nach ihrem Vorbringen bereits am 17.01.2022 auf die Möglichkeit eines am 19.01.2022 eintretenden Transportbedarfs hingewiesen hatte, aber bereits am 17.01.2022 eine Kapazitätsauslastung bestand, die am 19.01.2022 keinen Transport erlaubte. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass es sich dabei nicht um eine plötzliche und momentane Kapazitätsauslastung handelte, nachdem der Transport sodann am Morgen des 20.01.2022 erfolgen konnte. Der Bundesgerichtshof hat auch keinen Zweifel, dass entsprechend den Grundsätzen in der genannten Entscheidung des Unionsgerichtshofs die Unterbringung eines Drittstaatsangehörigen zur Sicherung der Abschiebung als Ausnahme vom Grundsatz der Unterbringung in einer speziellen Haftanstalt jedenfalls für eine Nacht (weiterhin) am Ort der bis dahin vollzogenen Untersuchungshaft erfolgen darf, wenn am Tag der Aufhebung der Untersuchungshaft und Anordnung der Sicherungshaft ein Transport in die weit entfernte Abschiebungshafteinrichtung aus plötzlichen und momentanen Kapazitätsgründen nicht mehr erfolgen kann. Ein Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 267 Art. 3 AEUV ist daher nach den dafür geltenden Grundsätzen7 nicht erforderlich.

Nach alledem konnte für den Bundesgerichtshof ferner dahinstehen, ob ohne plötzliche und momentane Auslastung der Transportkapazitäten die Unterbringung der Betroffenen in der Justizvollzugsanstalt A unzulässig und dieses strukturelle Defizit zudem für den Haftrichter am 19.01.2022 angesichts des damals geltenden § 62a Abs. 1 AufenthG 2019 vor der Entscheidung des Unionsgerichtshofs vom 10.03.20228 nach den obigen Grundsätzen absehbar gewesen wäre. 

Allerdings hat das Amtsgericht im vorliegenden Fall die Vollstreckung der Sicherungshaft unzulässig an das Ende der bestehenden Untersuchungshaft geknüpft. Sicherungshaft darf nicht auf Vorrat, sondern nur parallel zu einer laufenden Straf- oder Untersuchungshaft angeordnet werden9. Soweit die beteiligte Behörde meint, damit werde nur die Vollstreckung bestimmt, nicht aber festgelegt, dass die Berechnung des Fristlaufs mit der Vollstreckung beginnt, greift das nicht durch. Eine Aufnahme der in Ziffer 2 enthaltenen Regelung in den Tenor wäre nämlich in diesem Fall nicht erforderlich gewesen. Daraus, dass das später und nach Aufhebung der Untersuchungshaft erstellte Haftdatenblatt ein Ende der Sicherungshaft auf den 1.03.2022 ausweist, ergibt sich – entgegen der Ansicht der beteiligten Behörde – nichts Anderes. Auf die Angabe im Haftdatenblatt kommt es für die Frage, welcher Regelungsgehalt dem Beschlusstenor des Amtsgerichts zu entnehmen ist, von vornherein nicht an. Allerdings hat sich der Fehler des Amtsgerichts nicht ausgewirkt10, weil die Untersuchungshaft am Tag der Anordnung der Sicherungshaft aufgehoben worden ist. Zutreffend rügt die Rechtsbeschwerde in diesem Zusammenhang denn auch lediglich, dass die Haft ab dem 22.02.2022 rechtswidrig gewesen sei.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 26. März 2024 – XIII ZB 30/22

  1. Bestätigung von BGH, Beschluss vom 04.12.2014 – V ZB 77/14, BGHZ 203, 323
  2. Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 10.05.2019, BT-Drs.19/10047 S. 44
  3. siehe dazu im Einzelnen EuGH, Urteil vom 10.03.2022 – C-519/20, NVwZ 2022, 783 Rn. 45 bis 57
  4. BGH, Beschlüsse vom 17.09.2014 – V ZB 189/13, InfAuslR 2015, 23 Rn. 4; vom 05.12.2023 – XIII ZB 45/22 15
  5. vgl. BGH, Beschluss vom 25.08.2020 – XIII ZB 40/19, InfAuslR 2021, 73 Rn. 12 zum Transitaufenthalt bei Minderjährigen
  6. EuGH, NVwZ 2022, 783 Rn. 94 bis 97
  7. EuGH, Urteile vom 06.10.1982 – C-283/81, NJW 1983, 1257 21] – Cilfit; vom 15.09.2005 – C-495/03, HFR 2005, 1236 Rn. 33 – Intermodal Transports; vom 04.10.2018 – C-416/17, EuZW 2018, 1038 Rn. 110 – Kommission/Frankreich
  8. EuGH, Urteil vom 10.03.2022, aaO
  9. BGH, Beschluss vom 04.12.2014 – V ZB 77/14, BGHZ 203, 323 Rn. 7
  10. BGHZ 203, 323 Rn. 9