Abschiebungshaft – und trotz unterlassener Anhörung keine Verfassungsbeschwerde
Eine Verfassungsbeschwerde bezüglich des Vollzugs von Abschiebungshaft ist trotz unterlassener Anhörung des Betroffenen unzulässig, wenn dieser keine Anhörungsrüge eingelegt hat.
Nach dem Grundsatz der Subsidiarität soll der gerügte Grundrechtsverstoß nach Möglichkeit schon im fachgerichtlichen Verfahren beseitigt werden1. Danach haben Beschwerdeführer über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinn hinaus alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten zu ergreifen, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern2. Das kann auch bedeuten, dass die Beschwerdeführer zur Wahrung des Subsidiaritätsgebots gehalten sind, im fachgerichtlichen Verfahren eine Gehörsverletzung mit den gegebenen Rechtsbehelfen, insbesondere mit einer Anhörungsrüge, selbst dann anzugreifen, wenn sie im Rahmen der ihnen insoweit zustehenden Dispositionsfreiheit mit der Verfassungsbeschwerde zwar keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG rügen wollen3, durch den fachgerichtlichen Rechtsbehelf aber die Möglichkeit wahren, dass bei Erfolg der Gehörsverletzungsrüge in den vor den Fachgerichten gegebenenfalls erneut durchzuführenden Verfahrensschritten auch andere Grundrechtsverletzungen beseitigt werden, durch die sie sich beschwert fühlen4. Denn die Dispositionsfreiheit der Beschwerdeführer enthebt sie nicht ohne Weiteres der Beachtung des Subsidiaritätsgebotes; als Voraussetzung der Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde ist dieses der Verfügungsmacht der Beschwerdeführer entzogen5.
Im Übrigen müssen Beschwerdeführer nach den Anforderungen der §§ 23 Abs. 1 Satz 2, 1. Halbsatz, 92 BVerfGG hinreichend substantiiert und schlüssig darlegen, dass eine unmittelbare und gegenwärtige Verletzung in einem verfassungsbeschwerdefähigen Recht möglich erscheint6. Zur Begründung gehört eine konkrete inhaltliche Auseinandersetzung mit den angegriffenen instanzgerichtlichen Entscheidungen und deren tragenden Begründungen, und zwar auf der Ebene des Verfassungsrechts am Maßstab der als verletzt gerügten grundrechtlichen Positionen7.
Diesen Anforderungen genügt die Verfassungsbeschwerde im vorliegenden Fall nicht:
Soweit die Beschwerdeführerin die Grundrechtswidrigkeit des amtsgerichtlichen Beschlusses – und des diesen bestätigenden landgerichtlichen Beschlusses – darin erblickt, dass sie vor Erlass des Beschlusses nicht angehört worden ist, hat sie den Subsidiaritätsanforderungen nicht genügt. Zur Wahrung der Subsidiaritätsanforderungen hätte die Beschwerdeführerin eine Anhörungsrüge – hier nach § 44 FamFG – einlegen müssen. Es ist nicht auszuschließen, dass die Fachgerichte auf die Anhörungsrüge hin im dann fortzusetzenden Verfahren die Rechtswidrigkeit des Beschlusses insoweit festgestellt hätten. In diesem Fall wären auch etwaige weitere Grundrechtsverletzungen durch die Fachgerichte beseitigt worden.
Im verfassungsgerichtlichen Verfahren rügt die Beschwerdeführerin zwar ausdrücklich keine Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG. Es spricht aber vieles dafür, dass das Landgericht einen Gehörsverstoß begangen haben könnte, der entscheidungserheblich war.
Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das entscheidende Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen8. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Gericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen der Beteiligten auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Die Gerichte brauchen nicht jedes Vorbringen der Beteiligten in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich zu bescheiden. Geht das Gericht auf den wesentlichen Kern des Vortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen jedoch nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert war9.
Die Entscheidung des Landgerichts dürfte den beschriebenen Anforderungen nicht genügen. Die Beschwerdeführerin hatte in ihrer Beschwerdeschrift ausgeführt, die Anhörung hätte noch am 4.12.2018 oder aber spätestens am 5.12.2018 bis 24 Uhr erfolgen können und müssen. Auf diesen Vortrag ist das Landgericht nicht eingegangen. Es hat lediglich ausgeführt, dass die Anhörung am 6.12. – in Zusammenhang mit der weiteren Verlängerung der Haft – „unverzüglich“ nachgeholt worden sei. Es ist jedoch nicht erkennbar, dass sich das Landgericht mit dem Einwand der Beschwerdeführerin beschäftigt hätte, wonach eine Anhörung am 4.12. oder am 5.12. vor Haftentlassung – und damit vor dem „letztmöglichen“ Zeitpunkt des Beschlusserlasses – einerseits möglich und andererseits erforderlich gewesen wäre. Die bloße Behauptung des Landgerichts, die Anhörung sei „unverzüglich“ nachgeholt worden, impliziert das für sich genommen nicht. Es fehlt in diesem Zusammenhang an einer belastbaren Begründung. Offensichtlich hat das Landgericht nicht geprüft, ob eine Anhörung bereits am 4. oder 5.12. hätte erfolgen können beziehungsweise müssen, sondern schlicht unterstellt, dass dies nicht der Fall war. Insoweit hat es den gegenteiligen Vortrag der Beschwerdeführerin nicht „erwogen“.
Der hierin liegende Gehörsverstoß dürfte auch entscheidungserheblich gewesen sein. Es ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht auf eine Gehörsrüge hin erkannt hätte, dass es einer Auseinandersetzung mit dem Einwand der Beschwerdeführerin bedurft hätte, wonach die Anhörung früher – gegebenenfalls unter Hinzuziehung des amtsgerichtlichen Eildienstes – hätte erfolgen können und müssen. In diesem Fall hätte es das Verfahren fortgesetzt und wäre gegebenenfalls zu einem anderen Ergebnis – insbesondere der Rechtswidrigkeit des Beschlusses vom 04.12.2018 wegen fehlender Anhörung – gelangt. Eine in der fehlenden Anhörung möglicherweise liegende Grundrechtsverletzung wäre dadurch bereits fachgerichtlich festgestellt worden.
Insofern hat die Beschwerdeführerin, die (offenbar) keine Anhörungsrüge eingelegt hat, den Subsidiaritätsvoraussetzungen nicht genügt.
Soweit die Beschwerdeführerin rügt, die fachgerichtlichen Entscheidungen seien grundrechtswidrig, weil durch die zuständige Ausländerbehörde ausschließlich eine Hauptsacheentscheidung beantragt worden sei, das Amtsgericht aber mit seinem Beschluss vom 04.12.2018 lediglich eine einstweilige Anordnung getroffen habe, hat sie die Möglichkeit einer Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten nicht hinreichend substantiiert und schlüssig dargelegt.
Das Amtsgericht ging im hiesigen Fall davon aus, eine Hauptsacheentscheidung könne (noch) nicht erlassen werden, weil eine Anhörung der Beschwerdeführerin vor dem Zeitpunkt, an dem notwendigerweise die Entscheidung zu erlassen sei, nicht durchgeführt werden könne, eine Hauptsacheentscheidung aber ohne Anhörung nicht ergehen dürfe. Das Amtsgericht begreift die einstweilige Anordnung insoweit offenbar als „Minus“ zur Hauptsacheentscheidung und sieht sie von dem behördlichen Antrag auf Erlass einer Hauptsacheentscheidung mit umfasst.
Die Beschwerdeführerin hat nicht dargelegt, dass die Auffassung, wonach es sich bei der einstweiligen Anordnung um ein Minus zur Hauptsache handle10, verfassungswidrig wäre.
Zwar hat der Bundesgerichtshof ausgeführt, dass es sich beim Hauptsacheverfahren und beim einstweiligen Anordnungsverfahren um unterschiedliche Verfahrensarten handle, für die jeweils unterschiedliche Voraussetzungen gälten11. Das könnte den Schluss nahelegen, es seien entsprechend differenzierende Anträge erforderlich, sodass der Antrag auf Erlass einer Hauptsacheentscheidung den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht mit umfassen könnte und umgekehrt. Daraus lässt sich aber noch nicht schließen, dass die gegenteilige Auffassung unvertretbar wäre.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 9. Januar 2023 – 2 BvR 1217/19
- vgl. BVerfGE 63, 77 <78>↩
- vgl. BVerfGE 68, 384 <389> 81, 22 <27>↩
- vgl. BVerfGE 126, 1 <17>↩
- vgl. BVerfGE 134, 106 <115 Rn. 27> BVerfG, Beschluss vom 25.04.2005 – 1 BvR 644/05, Rn. 10↩
- BVerfGE 134, 106 <115 Rn. 27>↩
- vgl. BVerfGE 89, 155 <171> 123, 267 <329>↩
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 09.12.2009 – 2 BvR 1957/08, Rn. 11; Beschluss vom 24.10.2011 – 1 BvR 732/11, Rn. 16; Beschluss vom 08.12.2017 – 2 BvR 2019/17, Rn. 17↩
- vgl. BVerfGE 11, 218 <220> 72, 119 <121> stRspr↩
- vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.06.2015 – 2 BvR 433/15, Rn. 9↩
- vgl. dazu LG Wuppertal, Beschluss vom 25.10.2021 – 9 T 148/21, Rn. 52↩
- vgl. etwa BGH, Beschluss vom 16.09.2015 – V ZB 40/15, Rn. 9↩