Der organisatorische Spielraum der Ausländerbehörde bei der Abschiebung

Mit dem organisatorischen Spielraum der Ausländerbehörde bei einer Abschiebungshaft hatte sich aktuell der Bundesgerichtshof zu befassen. Konkret ging es hierbei um die Rückführung mit einem Charterflug anstelle des ursprünglich geplanten früheren Linienflugs:

Der Entscheidung des Bundesgerichtshofs lag ein Fall aus Hamburg zugrunde. Der Betroffene, ein malischer Staatsangehöriger, reiste 2004 in das Bundesgebiet ein. Mit Bescheid vom 26.04.2019 lehnte die beteiligte Ausländerbehörde seinen Antrag auf Verlängerung der ihm erteilten Aufenthaltserlaubnis ab, setzte ihm eine Frist zur Ausreise und drohte ihm die Abschiebung an. Rechtsmittel des Betroffenen blieben ohne Erfolg.  Nachdem der Betroffene mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten war und sich aggressiv gegenüber Mitarbeitern der Ausländerbehörde verhalten hatte, war zunächst beabsichtigt, ihn unter Sicherheitsbegleitung mit einem Linienflug am 26.04.2021 abzuschieben. Diesen Flug stornierte die beteiligte Behörde am 9.04.2021. Der Betroffene sollte nunmehr am 11.05.2021 mit einem Charterflug zurückgeführt werden.

Auf Antrag der Ausländerbehörde vom 19.04.2021 hat das Amtsgericht Hamburg am selben Tag Abschiebungshaft bis zum 12.05.2021 angeordnet1. Die dagegen gerichtete, nach Abschiebung des Betroffenen noch auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haftanordnung gerichtete Beschwerde hat das Landgericht Hamburg zurückgewiesen2. Die hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde des Betroffenen hat der Bundesgerichtshof nun als unbegründet zurückgewiesen:

Der Haftantrag war zulässig.

Ein zulässiger Haftantrag ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zur zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungs- oder Überstellungsvoraussetzungen, zur Erforderlichkeit der Haft, zur Durchführbarkeit der Abschiebung oder Überstellung und zur notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Diese Darlegungen dürfen zwar knapp gehalten sein; sie müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte ansprechen3. Dazu müssen die Darlegungen auf den konkreten Fall bezogen sein und dürfen sich nicht in Leerformeln erschöpfen4.

Diesen Maßstäben wird der Haftantrag gerecht. Die beteiligte Behörde hat im Haftantrag ausgeführt, der Betroffene solle am 19.04.2021 in den Räumen der Ausländerbehörde vorläufig in Gewahrsam genommen werden und dem Amtsgericht zur Anhörung für die beantragte Sicherungshaft vorgeführt werden. Ein Nationalpass liege der Ausländerbehörde vor, zudem sei ein Flug, wie sich aus Blatt 785 der Ausländerakte ergebe, bereits bestätigt.

Damit war ohne weiteres erkennbar, dass bereits ein Termin zur Ingewahrsamnahme des Betroffenen am 19.04.2021 geplant war, der Betroffene mittels eines Kleinstcharters am 11.05.2021 abgeschoben, zur Sicherung der Abschiebung bis zum 12.05.2021 in Haft genommen werden sollte und die beteiligte Behörde diese Dauer für erforderlich hielt. Anders als die Rechtsbeschwerde meint, bedurfte es angesichts des bereits feststehenden Fluges keiner weiteren Angaben zur Erforderlichkeit der beantragten Haftdauer. Ob die beteiligte Behörde die Ingewahrsamnahme des Betroffenen wegen der Stornierung der ursprünglich am 26.04.2021 geplanten Rückführung unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgebots hätte verschieben müssen, ist eine Frage der materiellen Rechtmäßigkeit der Haftanordnung.

Das Landgericht Hamburg hat das Beschleunigungsgebot hinreichend beachtet.

Das aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104 GG sowie Art. 5 Abs. 4, Art. 6 Abs. 1 EMRK folgende5 und zusätzlich in Art. 28 Abs. 3 Dublin-III-VO geregelte Beschleunigungsgebot bei Freiheitsentziehungen ist schon während des Laufs der – hier maßgeblichen – Dreimonatsfrist des § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG in der bis zum 26.02.2024 geltenden Fassung zu beachten6. Es schließt zwar einen organisatorischen Spielraum der Behörde nicht aus7, verlangt aber, dass sie die Abschiebung oder Überstellung ohne vermeidbare Verzögerung betreibt und alle notwendigen Anstrengungen unternimmt, damit der Vollzug der Haft auf einen möglichst kurzen Zeitraum beschränkt werden kann. Ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot führt dazu, dass die Haft aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht weiter aufrechterhalten werden darf8.

Nach diesen Maßstäben ist die Würdigung des Landgerichts Hamburg, die beteiligte Behörde habe das Beschleunigungsgebot nicht verletzt, nicht zu beanstanden.

Das Landgericht Hamburg hat zutreffend angenommen, die beteiligte Behörde hätte nach der Ingewahrsamnahme des Betroffenen am 19.04.2021 nicht erneut eine (frühere) Abschiebung mittels Linienflug in Betracht ziehen müssen. Sie durfte vielmehr den sichereren Weg eines Kleinstcharters wählen. Mit diesem Charterflug sollte ein anderer Ausländer abgeschoben werden, dessen Abschiebung nach Mali mit einem Linienflug deswegen gescheitert war, weil der Pilot die Beförderung verweigert hatte. Da auf diese Weise zusätzliche Kapazitäten für Rückführungen nach Mali zur Verfügung standen, buchte die beteiligte Behörde den Betroffenen auf diesen Charterflug um. Weil der Betroffene als hochgradig aggressiv galt und aus diesem Grund eine Sicherheitsbegleitung mit fünf Beamten vorgesehen war, musste die beteiligte Behörde – wie das Landgericht Hamburg zutreffend angenommen hat – nicht riskieren, dass die Abschiebung bei Buchung eines früheren Linienfluges aufgrund des aggressiven Verhaltens des Betroffenen scheitern könnte.

Die beteiligte Behörde war auch nicht gehalten, den Termin zur Vorsprache des Betroffenen zu verschieben, um auf diese Weise den Haftzeitraum bis zur geplanten Abschiebung zu verkürzen. Zwar hatte die Behörde schon am 9.04.2021 und somit noch vor der angesetzten Ingewahrsamnahme entschieden, den für den 26.04.2021 gebuchten Flug zu stornieren. Sie hatte jedoch dem Betroffenen die Ladung zur Vorsprache – und geplanten Ingewahrsamnahme – am 19.04.2021 anlässlich einer Vorsprache bereits am 15.03.2021 ausgehändigt. Dabei war auch die dem Betroffenen erteilte Duldung bis zum 19.04.2021 verlängert worden. Da die organisatorischen Voraussetzungen für die Ingewahrsamnahme somit bereits weitgehend in die Wege geleitet waren, durfte die beteiligte Behörde den ihr für eine erfolgreiche Abschiebung zustehenden organisatorischen Spielraum ausnutzen und war nicht gezwungen, die Duldung des Betroffenen am 19.04.2021 nochmals (kurzfristig) zu verlängern und einen weiteren Termin zur Vorsprache und Ingewahrsamnahme anzuberaumen, was das Risiko eines Scheiterns der Abschiebung erhöht hätte. Vor diesem Hintergrund stellt sich die gegenüber der ursprünglichen Planung um elf Tage längere Haft auch unter Beachtung des Beschleunigungsgebots nicht als unverhältnismäßig dar, zumal die Abschiebung letztlich bereits am 7.05.2021 erfolgt ist.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 17. September 2024 – XIII ZB 23/22

  1. AG Hamburg, Beschluss vom 19.04.2021 – 219j XIV 128/21
  2. LG Hamburg, Beschluss vom 25.01.2022 – 329 T 27/21
  3. st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 15.09.2011 – V ZB 123/11, InfAuslR 2012, 25 Rn. 8; vom 12.11.2019 – XIII ZB 5/19, InfAuslR 2020, 165 Rn. 8; vom 14.07.2020 – XIII ZB 74/19 7; vom 25.10.2022 – XIII ZB 116/19, NVwZ 2023, 1523 Rn. 7
  4. st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 27.10.2011 – V ZB 311/10, FGPrax 2012, 82 Rn. 13; NVwZ 2023, 1523 Rn. 7 mwN; vom 20.12.2022 – XIII ZB 40/20 7
  5. vgl. BGH, Beschlüsse vom 19.05.2011 – V ZB 247/10 6; vom 24.06.2020 – XIII ZB 9/19 11
  6. BGH, Beschluss vom 11.06.2024 – XIII ZB 36/21 9
  7. vgl. BGH, Beschlüsse vom 28.02.2023 – XIII ZB 68/21 11; vom 22.02.2024 – XIII ZA 1/24 15
  8. st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 10.06.2010 – V ZB 205/09 16; vom 21.03.2023 – XIII ZB 32/22 9; vom 11.06.2024 – XIII ZB 36/21 9