Reiseausweis für Ausländer – und die von der eritreischen Botschaft geforderte Reueerklärung

Einem subsidiär schutzberechtigten Ausländer darf die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer nicht mit der Begründung verweigert werden, er könne einen Pass seines Herkunftsstaates auf zumutbare Weise erlangen, wenn der Herkunftsstaat für die Ausstellung eines Passes an die Unterzeichnung einer „Reueerklärung“ knüpft, die mit der Selbstbezichtigung einer Straftat verbunden ist, und der Ausländer plausibel darlegt, dass er die Erklärung nicht abgeben will.

Nach § 5 Abs. 1 der Aufenthaltsverordnung (AufenthV) in der Fassung der Vierten Verordnung zur Änderung der Aufenthaltsverordnung vom 15.06.20091 kann einem Ausländer, der nachweislich keinen Pass oder Passersatz besitzt und ihn nicht auf zumutbare Weise erlangen kann, nach Maßgabe der nachfolgenden Bestimmungen ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt werden. Im Inland darf ein Reiseausweis für Ausländer nach Maßgabe des § 5 AufenthV unter anderem dann ausgestellt werden, wenn der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis besitzt (§ 6 Satz 1 Nr. 1 AufenthV).

Nach § 5 Abs. 2 Nr. 2 AufenthV gilt es insbesondere als zumutbar, in der den Bestimmungen des deutschen Passrechts, insbesondere den §§ 6 und 15 des Passgesetzes in der jeweils geltenden Fassung, entsprechenden Weise an der Ausstellung oder Verlängerung mitzuwirken und die Behandlung eines Antrages durch die Behörden des Herkunftsstaates zu dulden, sofern dies nicht zu einer unzumutbaren Härte führt. Zumutbar ist außerdem die Erfüllung zumutbarer staatsbürgerlicher Pflichten (§ 5 Abs. 2 Nr. 3 AufenthV).

Die Entscheidung über die Zumutbarkeit erfordert eine Abwägung der Interessen des Ausländers unter Beachtung seiner Grundrechte und der Werteordnung des Grundgesetzes einerseits mit den staatlichen Interessen, insbesondere der dadurch geforderten Rücksichtnahme auf die Personalhoheit des Herkunftsstaates, andererseits. Dabei muss auch auf den Nachdruck, mit dem der andere Staat seine Personalhoheit geltend macht, sowie auf die zu diesem Staat bestehenden Beziehungen Bedacht genommen werden2. Auf Seiten des Ausländers ist die von Art. 2 Abs. 1 GG3, sowie von Art. 2 Nr. 2 des Protokolls Nr. 4 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 16.09.1963 (Zusatzprotokoll Nr. 4 zur EMRK), durch das gewisse Rechte und Freiheiten gewährleistet werden, die nicht bereits in der Konvention oder im ersten Zusatzprotokoll enthalten sind, geschützte Ausreisefreiheit zu berücksichtigen. Nach Art. 2 Nr. 2 Zusatzprotokoll Nr. 4 zur EMRK steht es jeder Person frei, jedes Land, einschließlich des eigenen, zu verlassen. Die Ausübung dieses Rechts darf gemäß Art. 2 Nr. 3 des genannten Protokolls nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Die Weigerung eines Aufnahmestaates, einem subsidiär schutzberechtigten Ausländer ein Reisedokument auszustellen, weil dieser bei den Behörden seines Herkunftsstaates einen Pass beantragen könne, stellt einen Eingriff in die so geschützte Ausreisefreiheit dar4. Dieser ist gerechtfertigt, wenn die Ablehnung der Ausstellung eines Reisedokuments in einer demokratischen Gesellschaft zur Erreichung eines der abschließend aufgeführten legitimen Ziele, hier etwa der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, notwendig und verhältnismäßig ist.

Im Hinblick auf den mit der Ausstellung eines Reiseausweises verbundenen Eingriff in die Personalhoheit eines anderen Staates und die zu berücksichtigenden zwischenstaatlichen Belange, die als Bestandteil der öffentlichen Ordnung in dem vorgenannten Sinne anzusehen sind, ist der Ausländer grundsätzlich gehalten, sich bei den Behörden seines Herkunftsstaates um die Ausstellung eines Nationalpasses zu bemühen. Die Erteilung eines Reiseausweises für Ausländer kommt nur in Betracht, wenn solche Bemühungen nachweislich ohne Erfolg geblieben sind. Erfolglose Bemühungen um die Ausstellung eines Nationalpasses sind nur im Ausnahmefall entbehrlich, wobei der Ausländer die einen Ausnahmefall begründenden Umstände darzulegen hat.

Auch subsidiär Schutzberechtigten ist es nicht schon allein wegen des ihnen zuerkannten Schutzstatus unzumutbar, bei der Auslandsvertretung ihres Herkunftsstaates einen nationalen Pass zu beantragen. Dies ergibt sich aus den Unterschieden der Rechtsstellung anerkannter Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigter nach den einschlägigen Rechtsvorschriften vor allem des Unionsrechts.

Anerkannte Flüchtlinge haben nach Art. 25 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes5 (RL 2011/95/EU) i. V. m. Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK einen Anspruch auf Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge für Reisen außerhalb ihres Gebiets, soweit nicht zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen. Demgegenüber müssen die Mitgliedstaaten Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wurde, ein entsprechendes Reisedokument nur bei Vorliegen der einschränkenden zusätzlichen Voraussetzung ausstellen, dass sie keinen nationalen Pass erhalten können (so ausdrücklich Art. 25 Abs. 2 RL 2011/95/EU). Das im 39. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95/EU erwähnte Ziel, subsidiär Schutzberechtigten dieselben Rechte und Leistungen zu denselben Bedingungen zu gewähren wie Flüchtlingen, ist damit in Bezug auf Reisedokumente nicht vollständig verwirklicht; insoweit hat der Unionsgesetzgeber mit der Differenzierung in Art. 25 Abs. 1 und 2 RL 2011/95/EU zu erkennen gegeben, dass er hier eine Ausnahme für – im Sinne des 39. Erwägungsgrundes – notwendig und sachlich gerechtfertigt hält.

Die Entstehungsgeschichte der Regelung bestätigt dies: Vor Einführung der Vorgängerregelung (Art. 25 Abs. 2 RL 2004/83/EG) hatte das Europäische Parlament der Kommission vorgeschlagen, die beabsichtigte Regelung in Art. 25 Abs. 2 (dem damaligen Art. 23 Abs. 2 des Entwurfs der Kommission) dahin zu ändern, dass die Mitgliedstaaten Personen mit subsidiärem Schutzstatus Reisedokumente „unter den gleichen wie den in Absatz 1 erwähnten Bedingungen“ ausstellen6. Der Änderungsantrag des Parlaments wurde durch die Kommission indes abgelehnt und nicht in die Regelung des Art. 25 Abs. 2 RL 2004/83/EU aufgenommen. Die erwähnte Einschränkung ist auch im derzeit geltenden Art. 25 Abs. 2 RL 2011/95/EU weiterhin enthalten. Lediglich die in der Vorgängernorm noch enthaltene weitere Einschränkung, wonach subsidiär Schutzberechtigten, die keinen Nationalpass erhalten konnten, nur „zumindest“ dann Reisedokumente durch die Mitgliedstaaten ausgestellt werden sollten, wenn schwerwiegende humanitäre Gründe die Anwesenheit des Betroffenen in einem anderen Staat erforderten, ist weggefallen. Damit ist zwar eine gewisse Angleichung an die für die Flüchtlinge geltende Regelung dahingehend erfolgt, dass die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer bei subsidiär Schutzberechtigten nicht mehr an einen konkreten Reiseanlass geknüpft werden darf. Am Fortbestehen der – im Vergleich zu Art. 25 Abs. 1 RL 2011/95/EU – zusätzlichen Voraussetzung der Unmöglichkeit der Erlangung eines Nationalpasses hat sich hingegen nichts geändert. Hieran wird auch in Art. 25 des Kommissionsvorschlags für eine Anerkennungsverordnung vom 13.07.20167 festgehalten.

Es spricht im Übrigen viel dafür, dass es sich bei Art. 25 Abs. 2 RL 2011/95/EU nicht lediglich um eine Mindestregelung dergestalt handelt, dass es den Mitgliedstaaten unbenommen wäre, subsidiär Schutzberechtigten einen Anspruch auf Reisedokumente unter denselben Voraussetzungen zu gewähren wie Flüchtlingen (vgl. Art. 3 RL 2011/95/EU). Denn ausweislich der Entwurfsbegründung der Richtlinie 2004/83/EG sollte mit der einschränkenden Formulierung „sichergestellt werden, dass den Begünstigten des subsidiären Schutzstatus nur dann Reisedokumente ausgestellt werden, wenn sie keinen Nationalpass erhalten können, weil es beispielsweise keine funktionierenden Konsularbehörden mehr gibt“8.

Das Bundesverwaltungsgericht kann im hier entschiedenen Fall offenlassen, ob es einem subsidiär Schutzberechtigten generell schon dann unzumutbar ist, sich bei der Auslandsvertretung seines Herkunftsstaates um die Erteilung eines nationalen Passes zu bemühen, wenn ihm der subsidiäre Schutzstatus aufgrund einer gezielten Bedrohung durch staatliche Behörden (im Unterschied zu drohender willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts oder einer Bedrohung durch private Akteure, gegen die der Staat keinen wirksamen Schutz gewährt) zuerkannt worden ist9 oder ob auch in dieser Fallgruppe für eine Unzumutbarkeit weitere Umstände hinzutreten müssen10. Denn dem hier klagenden subsidiär Schutzberechtigten ist die Passbeschaffung jedenfalls deshalb nicht zuzumuten, weil sein Herkunftsstaat die Ausstellung an eine Bedingung knüpfen wird, deren Erfüllung ihm nicht abverlangt werden kann.

Es ist einem subsidiär Schutzberechtigten nicht zumutbar, die sogenannte Reueerklärung abzugeben, von deren Unterzeichnung die eritreische Auslandsvertretung die Ausstellung eines Passes abhängig machen würde. Dabei handelt es sich nach den für das Bundesverwaltungsgericht bindenden tatrichterlichen Feststellungen (§ 137 Abs. 2 VwGO) um einen aus zwei Sätzen bestehenden, zu unterschreibenden Passus am Ende des Formulars „4/4.2“ mit dem Titel „Immigration and Citizenship Services Request Form“, in dem der Erklärende bedauert, seiner nationalen Pflicht nicht nachgekommen zu sein und erklärt, eine eventuell dafür verhängte Strafe zu akzeptieren. Das Berufungsgericht hat ebenso bindend festgestellt, dass der subsidiär Schutzberechtigte als eritreischer Staatsangehöriger im dienstfähigen Alter, der illegal ausgereist ist, ohne den Nationaldienst (vollständig) erfüllt zu haben, konsularische Dienstleistungen wie die Ausstellung eines Reisepasses nur gegen Unterzeichnung einer solchen Reueerklärung wird in Anspruch nehmen können. Nachvollziehbar und ohne Verstoß gegen allgemein anerkannte Auslegungsregeln hat das Berufungsgericht in dieser Erklärung neben einem Ausdruck des Bedauerns oder Bereuens als solchem auch die Selbstbezichtigung einer Straftat – nämlich der nach eritreischem Recht strafbaren illegalen Ausreise – gesehen.

Jedenfalls im Hinblick auf diese Selbstbezichtigung ist dem subsidiär Schutzberechtigten die Abgabe der Erklärung gegen seinen ausdrücklich und plausibel bekundeten Willen nicht zumutbar.

Bei der erforderlichen Interessenabwägung zwischen dem staatlichen Interesse einerseits, das auf die Pass- und Personalhoheit des Herkunftsstaates Rücksicht zu nehmen hat, und den Grundrechten des Ausländers andererseits ist neben dessen Ausreisefreiheit hier auch dessen allgemeines Persönlichkeitsrecht zu berücksichtigen. Das durch Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Schutz vor einem Zwang zur Selbstbezichtigung. Es schützt davor, dass in einem deutschen Strafverfahren Aussagen verwendet werden, die aufgrund eines Zwangs zur Selbstbezichtigung getätigt worden sind. Der Einzelne soll vom Staat grundsätzlich nicht in eine Konfliktlage gebracht werden, in der er sich selbst strafbarer Handlungen oder ähnlicher Verfehlungen bezichtigen muss11.

Der vom Bundesverfassungsgericht so umschriebene Schutz ist auf das Strafverfahren ausgerichtet und bezeichnet ergebnishaft diejenigen Fälle, in denen das allgemeine Persönlichkeitsrecht verletzt ist, also ein verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigter Eingriff in dessen Schutzbereich vorliegt. Der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist indessen nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts weiter gefasst. Er ist auch dann eröffnet, wenn zwar kein mit Beugemitteln durchsetzbarer oder strafrechtlich sanktionierter Zwang zur Selbstbelastung vorliegt, aber der Einzelne zur Erlangung einer staatlichen Leistung, auf die er grundsätzlich einen Anspruch hat, auf die Abgabe einer Selbstbezichtigung verwiesen wird.

So liegt der Fall hier: Zwar dürfte das Berufungsgericht zutreffend festgestellt haben, dass eine imperative Verpflichtung zur Unterzeichnung der Reueerklärung nicht existiert. Denn der subsidiär Schutzberechtigte macht sich durch den Nichtbesitz eines Passes und Passersatzes nach aktueller strafgerichtlicher Rechtsprechung nicht wegen Verstoßes gegen die Ausweispflicht nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG strafbar12. Er kann zur Abgabe der Reueerklärung allein auf der Grundlage der gesetzlichen Mitwirkungspflicht an Passbeschaffungsbemühungen der Behörde (§ 48 Abs. 4 Satz 2 i. V. m. Abs. 3 AufenthG) auch nicht mit Beugemitteln gezwungen werden13. Aus dem Umstand, dass der subsidiär Schutzberechtigte daher selbst über die Abgabe der Reueerklärung entscheidet und diese auch unterlassen kann, folgt aber noch nicht, dass die Versagung des Reiseausweises durch den Beklagten mit den Grundrechten des subsidiär Schutzberechtigten von vornherein nicht in Konflikt geraten kann. Denn dann müsste er auf die Erlangung eines zur Durchführung von Auslandsreisen berechtigenden Dokuments insgesamt verzichten. Einen solchen Verzicht mutet ihm Art. 25 Abs. 2 RL 2011/95/EU gerade nicht zu. Diese Regelung gewährt subsidiär Schutzberechtigten ein nicht (mehr) auf dringliche humanitäre Anlässe beschränktes Recht zur Durchführung von Auslandsreisen. Damit trägt sie auch dem Recht auf Freizügigkeit nach Art. 2 Nr. 2 Zusatzprotokoll Nr. 4 zur EMRK Rechnung14. Vorbehaltlich entgegenstehender Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung soll jeder subsidiär Schutzberechtigte entweder mit einem nationalen Pass, oder, wenn er einen solchen (auf zumutbare Weise) nicht erhalten kann, mit einem mitgliedstaatlichen Reisedokument Auslandsreisen unternehmen können.

Der Begriff der Zumutbarkeit muss deshalb zum einen so ausgelegt und angewendet werden, dass die grundrechtlich geschützte Ausreisefreiheit keinen unverhältnismäßigen, in einem demokratischen Staat nicht notwendigen Einschränkungen unterworfen wird. Zum anderen liegt in dem positiven Verweis auf die die Abgabe einer Selbstbezichtigung erfordernde Beschaffung eines Nationalpasses und der damit einhergehenden Versagung eines Reiseausweises für Ausländer durch die Ausländerbehörde auch ein mittelbarer Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht15. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Betroffene plausibel darlegt, dass er zu der Selbstbezichtigung freiwillig nicht bereit ist. Die Grundrechte verpflichten den Staat nach Maßgabe des faktisch und rechtlich Möglichen auch dazu, den Einzelnen vor Verletzungen der Menschenwürde oder elementarer rechtsstaatlicher Grundsätze von Seiten ausländischer Staatsgewalt zu schützen16.

Die hiernach vorzunehmende Abwägung zwischen der grundrechtlich geschützten Ausreisefreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG sowie Art. 2 Nr. 2 Zusatzprotokoll Nr. 4 zur EMRK) und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) des subsidiär Schutzberechtigten einerseits und den staatlichen Interessen, namentlich dem Interesse an gebührender Rücksichtnahme auf die Pass- und Personalhoheit Eritreas, andererseits, geht vorliegend zugunsten des subsidiär Schutzberechtigten aus.

Die für die Passerteilung geforderte Erklärung, unter Verletzung der nationalen Pflichten illegal ausgereist zu sein und eine eventuell dafür verhängte Strafe zu akzeptieren, ist unter Berücksichtigung der widerstreitenden Belange für einen eritreischen Staatsangehörigen, der plausibel bekundet, die Erklärung nicht abgeben zu wollen, weder eine nach § 5 Abs. 2 Nr. 2 AufenthV zumutbare Mitwirkungshandlung noch eine „zumutbare staatsbürgerliche Pflicht“ im Sinne von § 5 Abs. 2 Nr. 3 AufenthV.

Unter zumutbaren staatsbürgerlichen Pflichten versteht der Verordnungsgeber insbesondere „jeweils auch im Einzelfall zumutbare Anforderungen der Registrierung bei Auslandsvertretungen auswärtiger Staaten einschließlich der Erteilung zumutbarer Auskünfte, der Beantragung einer Befreiung von Präsenzpflichten im Herkunftsstaat, der Zahlung von Steuern und Abgaben, der Erfüllung von Zivilschutzaufgaben nach dem Recht des Herkunftsstaates oder zur Ableistung eines Zivildienstes“17.

Vom Herkunftsstaat geforderte Mitwirkungshandlungen, die in den Bestimmungen des deutschen Passrechts keine Entsprechung haben, sind dem Ausländer unter Berücksichtigung dieser Vorgaben gegen seinen Willen nur zuzumuten, soweit sie mit grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen vereinbar sind. Das ist bei der Reueerklärung nicht der Fall. Die Verknüpfung einer Selbstbezichtigung mit der Ausstellung eines Reisepasses entfernt sich so weit von einer rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltung, dass der Ausländer sich darauf gegen seinen Willen von der Ausländerbehörde nicht verweisen lassen muss. Dabei fällt ins Gewicht, dass es sich nicht um eine – grundsätzlich zumutbare – Auskunftspflicht handelt, der ein legitimes Interesse staatlicher Aufgabenerfüllung zugrunde liegt. Ein legitimes Auskunftsinteresse des eritreischen Staates ist vielmehr auch und gerade auf der Grundlage der Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts nicht erkennbar. Zudem ist nach den tatrichterlichen Feststellungen nichts dafür ersichtlich, dass diese von den eritreischen Auslandsvertretungen praktizierte Voraussetzung im „Recht des Herkunftsstaates“ (vgl. § 5 Abs. 2 Nr. 2 AufenthV) irgendeine formelle Grundlage hätte.

Mit der Erklärung, die bei illegal ausgereisten Eritreern der Legalisierung des „Status gegenüber ihrem Herkunftsstaat“ dient, soll der Unterzeichner nach der Auslegung des Berufungsgerichts zu erkennen geben, „dass er den eritreischen Staat akzeptiert“. Damit verbunden ist nicht nur eine „Anerkennung der staatlichen Souveränität und Vorherrschaft Eritreas“, sondern dem Wortlaut nach auch eine rechtsstaatliche Grenzen nicht einfordernde Unterwerfung unter die eritreische Strafgewalt. Im Unterschied zu der „Freiwilligkeitserklärung“, an die der iranische Staat die Passausstellung an ausreisepflichtige Staatsbürger knüpft und die das Bundesverwaltungsgericht für zumutbar erachtet hat18, wird eritreischen Staatsangehörigen mit der Reueerklärung somit auch ein Loyalitätsbekenntnis zu ihrem Herkunftsstaat abgefordert. Eine solche Selbstbezichtigung ist dem subsidiär Schutzberechtigten gegen seinen ausdrücklichen Willen nicht zuzumuten. Dies gilt umso mehr, als es in Eritrea nach den Feststellungen des Berufungsgerichts kein rechtsstaatliches Verfahren gibt und dem subsidiär Schutzberechtigten gerade deshalb subsidiärer Schutz gewährt worden ist, weil ihm wegen der Straftat, die er mit der Reueerklärung schriftlich eingestehen soll, in Eritrea ein mit Folter oder unmenschlicher und erniedrigender Behandlung verbundenes Strafverfahren oder eine ebensolche Bestrafung droht19.

Angesichts der gravierenden Menschenrechtsverletzungen und der willkürlichen Strafverfolgungspraxis, die das Berufungsgericht selbst dem eritreischen Staat attestiert hat, kann ein Eritreer gegen seinen Willen auf die Unterzeichnung einer derartigen Selbstbezichtigung mit bedingungsloser Akzeptanz einer wie auch immer gearteten Strafmaßnahme auch dann nicht zumutbar verwiesen werden, wenn die Abgabe der Erklärung – wie das Berufungsgericht für das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindend festgestellt hat – die Wahrscheinlichkeit einer Strafverfolgung und einer Bestrafung wegen der illegalen Ausreise nicht erhöht, sondern unter Umständen sogar verringert. Vielmehr muss der Ausländer unter den beschriebenen Umständen kein auch noch so geringes Restrisiko eingehen und ist allein der – nachvollziehbar bekundete – Unwille, die Erklärung zu unterzeichnen, schutzwürdig. Die willkürliche und menschenrechtswidrige Strafverfolgungspraxis mindert auf der anderen Seite zugleich die Schutzwürdigkeit der Personalhoheit des eritreischen Staates, die in der Abwägung hier zurücktreten muss.

Aus diesen Gründen kommt es auch nicht darauf an, dass der subsidiär Schutzberechtigte infolge des ihm zuerkannten subsidiären Schutzes derzeit nicht nach Eritrea zurückkehren muss. Deshalb bedarf die asylrechtliche Frage, ob die durch Abgabe der Reueerklärung und Zahlung der sogenannten Aufbausteuer (unter Umständen) bewirkte Erlangung des „Diaspora-Status“ hier zu einem Widerruf des subsidiären Schutzes gemäß § 73b Abs. 1 Satz 1 AsylG führen kann, keiner Vertiefung.

Zu keiner anderen Entscheidung führt die Feststellung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts20, dass sich eritreische Staatsangehörige nach Abwägung der Vor- und Nachteile nicht selten freiwillig zu einer Unterzeichnung der Reueerklärung bereitfinden. Dies ändert nichts daran, dass einem Eritreer, der die Erklärung gerade nicht abgeben will und dafür konsequenterweise die Unmöglichkeit von Reisen in sein Herkunftsland in Kauf nimmt (vgl. § 9 Abs. 1 Satz 2 AufenthV), die Unterzeichnung individuell nicht zuzumuten ist. Der hier klagende subsidiär Schutzberechtigte erfüllt die subjektive Voraussetzung für eine Unzumutbarkeit der Reueerklärung. Er hat plausibel bekundet, die Erklärung nicht abgeben zu wollen. Nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts ergibt sich aus seinem Vortrag, dass die Abgabe der Reueerklärung im Widerspruch zu seiner inneren Einstellung steht und dass sie seiner Auffassung von guter politischer Ordnung und sozialer Gerechtigkeit zuwiderliefe; er lehne den eritreischen Staat und die Möglichkeit einer „Bereinigung der Verhältnisse“ durch die Beantragung des Diaspora-Status ab. Weitergehende Anforderungen sind an die Plausibilisierung der Weigerung nicht zu stellen; insbesondere bedarf es nicht der Glaubhaftmachung einer Gewissensentscheidung oder einer unauflöslichen inneren Konfliktlage.

Ob weitere Gründe vorliegen, aus denen dem subsidiär Schutzberechtigten die Erlangung eines Nationalpasses unzumutbar ist, ist nicht mehr entscheidungserheblich. Das gilt insbesondere auch für die vom Oberverwaltungsgericht bejahte Frage, ob es sich bei dem Erfordernis der Zahlung einer sogenannten Aufbausteuer in Höhe von 2 % des in Deutschland seit dem Zeitpunkt der Einreise erzielten (Brutto- oder Netto-)Einkommens um eine zumutbare staatsbürgerliche Pflicht handelt.

Sind alle – positiven wie negativen – Voraussetzungen für die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer gegeben, ist der Beklagte verpflichtet, dem subsidiär Schutzberechtigten einen solchen zu erteilen. Nach § 5 Abs. 1 AufenthV steht die Erteilung des Ausweises zwar grundsätzlich im Ermessen der Ausländerbehörde. Bei subsidiär Schutzberechtigten ist dieses Ermessen jedoch in richtlinienkonformer Anwendung des § 5 Abs. 1 AufenthV auf Null reduziert, wenn auch die in Art. 25 Abs. 2 letzter Halbs. RL 2011/95/EU erwähnte Ausnahme nicht eingreift. Denn die Regelung verpflichtet die Mitgliedstaaten, Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist und die keinen nationalen Pass erhalten können, Dokumente für Reisen außerhalb ihres Hoheitsgebiets auszustellen, es sei denn, dass zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung entgegenstehen21. Für das Vorliegen des im letzten Halbsatz dieser Regelung enthaltenen, im nationalen Recht nicht ausdrücklich umgesetzten Ausschlussgrundes ergeben sich aus den Feststellungen des Berufungsgerichts keinerlei Anhaltspunkte.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 11. Oktober 2022 – 1 C 9.21

  1. BGBl. I S. 1287
  2. vgl. BVerwG, Beschluss vom 29.09.1988 – 1 B 106.88, Buchholz 402.24 § 4 AuslG 1965 Nr. 4 S. 2
  3. BVerfG, Urteil vom 16.01.1957 – 1 BvR 253/56, BVerfGE 6, 32 <34>
  4. EGMR, Urteil vom 14.06.2022 – Nr. 38121/20 [ECLI:​CE:​ECHR:​2022:​0614JUD003812120], L.B. v. Lithuania, Rn. 81
  5. ABl. L 337 S. 9, ber. ABl.2017 L 167 S. 58
  6. Bericht des Ausschusses für die Freiheiten und Rechte der Bürger, Justiz und innere Angelegenheiten vom 08.10.2002, KOM<2001> 510 – C5-0573/2001 – 2001/0207 , Änderungsantrag 67, S. 40
  7. KOM<2016> 466 endg.
  8. KOM<2001> 510 endg.; Ratsdok. 13620/01, BR-Drs. 1017/01 S. 34
  9. vgl. etwa Marx, AsylG, 11. Aufl.2022, § 4 AsylG Rn. 90; ders., Handbuch zum Flüchtlingsschutz: Erläuterungen zur Qualifikationsrichtlinie, 2. Aufl.2012, § 57 Rn. 12; VG Aachen, Urteil vom 10.06.2020 – 4 K 2580/18 [ECLI:​DE:​VGAC:​2020:​0610.4K2580.18.00] 40; in anderem Zusammenhang auch BT-Drs.19/10047 S. 38
  10. so etwa OVG NRW, Beschluss vom 25.11.2021 – 18 E 660/21 [ECLI:​DE:​OVGNRW:​2021:​1125.18E660.21.00] 14 ff.; wohl auch BayVGH, Urteil vom 25.11.2021 – 19 B 21.17 89 67 ff.
  11. vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.02.1997 – 1 BvR 2172/96, BVerfGE 95, 220 <241>
  12. vgl. BayObLG, Urteil vom 12.07.2021 – 203 StRR 171/21 [ECLI:​DE:​BAYOBLG:​2021:​0712.203STRR171.21.00]
  13. zur mangelnden Durchsetzbarkeit der sogenannten Freiwilligkeitserklärung vgl. BVerwG, Urteil vom 10.11.2009 – 1 C 19.08, BVerwGE 135, 219 Rn. 17 f.
  14. vgl. dazu EGMR, Urteil vom 14.06.2022 – Nr. 38121/20, Rn. 81
  15. ebenso VG Hannover, Urteil vom 20.05.2020 – 12 A 5005/18 [ECLI:​DE:​VGHANNO:​2020:​0520.12A5005.18.00] 40; VG Schleswig, Urteil vom 25.06.2021 – 11 A 270/20 [ECLI:​DE:​VGSH:​2021:​0625.11A270.20.00] 42 f.; Ujkašević, ZAR 2022, 263 <269>
  16. vgl. BVerfG, Urteil vom 20.04.2016 – 1 BvR 966/09, 1 BvR 1140/09 [ECLI:​DE:​BVerfG:​2016:​rs20160420.1bvr096609], BVerfGE 141, 220 Rn. 326 – 328; Kunig/Kotzur, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 7. Aufl.2021, Art. 1 Rn. 49
  17. vgl. BR-Drs. 731/04 S. 152 f.
  18. vgl. BVerwG, Urteil vom 10.11.2009 – 1 C 19.08, BVerwGE 135, 219 Rn. 15
  19. so auch VG Sigmaringen, Urteil vom 16.02.2022 – 5 K 4651/20 [ECLI:​DE:​VGSIGMA:​2022:​0216.5K4651.20.00] 45
  20. Nds. OVG, Urteil vom 18.03.2021 – 8 LB 97/20
  21. ebenso etwa VG Hannover, Urteil vom 20.05.2020 – 12 A 2452/19 [ECLI:​DE:​VGHANNO:​2020:​0520.12A2452.19.00] 48 f.; VG Saarland, Urteil vom 29.09.2021 – 6 K 283/19 [ECLI:​DE:​VGSL:​2021:​0929.6K283.19.00] 63; siehe auch BVwG Österreich, Erkenntnis vom 16.04.2021 – W211 2229796-1/12E [ECLI:​AT:​BVWG:​2021:​W211.2229796.01.00] – S. 7