Asyl für Frauen aus Afghanistan

Die diskriminierenden Maßnahmen des Taliban-Regimes gegen Frauen stellen Verfolgungshandlungen dar. Bei der individuellen Prüfung des Asylantrags einer afghanischen Frau genügt es daher, wenn ein EU-Mitgliedstaat lediglich ihr Geschlecht und ihre Staatsangehörigkeit berücksichtigt.

Dieser Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union, der afghanischen Frauen ohne weitere Prüfung einen Asylanspruch zubilligt, lag ein Fall aus Österreich zugrunde: 

Zwei Frauen mit afghanischer Staatsangehörigkeit wenden sich vor dem österreichischen Verwaltungsgerichtshof gegen die Weigerung der österreichischen Behörden, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Sie machen geltend, die Situation der Frauen unter dem neuen Taliban-Regime in Afghanistan allein rechtfertige schon die Gewährung dieses Status.

Nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofs hat die Rückkehr dieses Regimes an die Macht im Jahr 2021 schwerwiegende Auswirkungen auf die Grundrechte von Frauen. Das Regime führe zahlreiche diskriminierende Maßnahmen ein, die beispielsweise darin bestünden, dass Frauen keine rechtlichen Mittel zur Verfügung gestellt würden, um Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt sowie Zwangsverheiratungen erhalten zu können, sie ihren Körper vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen hätten, ihnen der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen erschwert werde, ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt werde, sie einer Erwerbstätigkeit nicht oder in eingeschränktem Ausmaß nachgehen dürften, der Zugang zu Bildung eingeschränkt werde und sie vom politischen Leben ausgeschlossen würden.

Der Verwaltungsgerichtshof ist der Auffassung, afghanische Frauen gehörten zu einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes. Diese Frauen könnten in Afghanistan Verfolgungshandlungen aufgrund ihres Geschlechts ausgesetzt sein. Der österreichische Verwaltungsgerichtshof richtete daher ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zu der Rechtsfrage, ob die vorstehend beschriebenen diskriminierenden Maßnahmen in ihrer Gesamtheit als Verfolgungshandlungen eingestuft werden können, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtfertigen könnten. Zum anderen möchte der österreichische Verwaltungsgerichtshof wissen, ob die zuständige nationale Behörde im Rahmen der individuellen Prüfung des Asylantrags einer afghanischen Frau andere Aspekte als deren Staatsangehörigkeit und Geschlecht berücksichtigen muss.

Mit einem Vorabentscheidungsersuchen können die Gerichte der EU-Mitgliedstaaten dem Gerichtshof der Europäischen Union im Rahmen eines Rechtsstreits, über den sie zu entscheiden haben, Fragen betreffend die Auslegung des Unionsrechts oder die Gültigkeit einer Handlung der Europäischen Union vorzulegen. Der Unionsgerichtshof entscheidet dabei nur über die vorgelegte Rechtsfrage, nicht hingegen auch über den beim nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit. Dieser ist in der Folge unter Zugrundelegung der Entscheidung des Unionsgerichtshofs von den jeweiligen nationalen Gerichten zu entscheiden. Die Entscheidung des Unionsgerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, wenn diese über vergleichbare Fragen zu befinden haben, ist also zum Beispiel auch im Rahmen deutscher Asylentscheidungen maßgeblich.

Auf das Vorabentscheidungsersuchen des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs antwortete nun der Gerichtshof der Europäischen Union, dass einige der fraglichen Maßnahmen für sich genommen als „Verfolgung“ einzustufen sind, da sie eine schwerwiegende Verletzung eines Grundrechts darstellen. Dies gilt für die Zwangsverheiratung, die einer Form der Sklaverei gleichzustellen ist, und für den fehlenden Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt, die Formen unmenschlicher und erniedrigender Behandlung darstellen. 

Wenn man annimmt, dass es sich bei den anderen Maßnahmen für sich genommen im Hinblick auf die Einstufung als Verfolgung um keine ausreichend schwerwiegende Verletzung eines Grundrechts handelt, so stellen diese Maßnahmen nach Ansicht des Unionsgerichtshofs in ihrer Gesamtheit doch eine solche Verfolgung dar. Aufgrund ihrer kumulativen Wirkung und ihrer bewussten und systematischen Anwendung führen sie dazu, dass in flagranter Weise die mit der Menschenwürde verbundenen Grundrechte vorenthalten werden.

Zweitens berücksichtigt der Gerichtshof der Europäischen Union in Bezug auf die individuelle Prüfung des Asylantrags einer Frau mit afghanischer Staatsangehörigkeit die Situation von Frauen unter dem derzeitigen Taliban-Regime, wie sie insbesondere in den Berichten der Asylagentur der Europäischen Union (EUAA) und des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) dargelegt wurde. Der Entscheidung des Unionsgerichtshofs zufolge können die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten davon ausgehen, dass nicht festgestellt werden muss, dass die Antragstellerin bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen zu erleiden droht. Es genügt, lediglich ihre Staatsangehörigkeit und ihr Geschlecht zu berücksichtigen.

Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 4. Oktober 2024 – C -608/22 und C -609/22