Aufenthaltsbeendende Maßnahmen – und die Angehörigen

Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG ist es grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen.

Nach Art. 6 Abs. 1 GG stehen Ehe und Familie unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. Die tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft von Eltern mit Kindern ist als Familie durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützt1. Der Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG reicht insofern über das Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG hinaus, als er auch Familiengemeinschaften im weiteren Sinne einbezieht, die als soziale Familien von einer rechtlichen Elternschaft unabhängig sind2.

Für den Schutz durch das Familiengrundrecht kommt es nicht darauf an, ob die Eltern miteinander verheiratet sind oder nicht; der Familienschutz schließt auch die nichteheliche Familie ein3. Weil das Familiengrundrecht auf den Schutz der spezifisch psychologischen und sozialen Funktion familiärer Bindungen zielt, setzt der Grundrechtsschutz den Bestand rechtlicher Verwandtschaft nicht voraus. Alle Beteiligten können sich jeweils eigenständig auf den Schutz des Familiengrundrechts berufen4.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährt Art. 6 GG zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Einreise und Aufenthalt zwecks Nachzugs zu bereits im Bundesgebiet lebenden Angehörigen5. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, Ausländerbehörden und Gerichte, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen6. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles7.

Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG ist es grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen8. Das Visumverfahren bietet Gelegenheit, die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen zu überprüfen. Das Aufenthaltsgesetz trägt dabei dem Gebot der Verhältnismäßigkeit Rechnung, indem es unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG im Einzelfall erlaubt, von dem grundsätzlichen Erfordernis einer Einreise mit dem erforderlichen Visum (§ 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) abzusehen. Der mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland begehrt, regelmäßig hinzunehmen9.

Ob diesen verfassungsrechtlichen Geboten Genüge getan wurde, ist im vorliegenden Fall nach einem obiter dictum des Bundesverfassungsgerichts allerdings zumindest zweifelhaft. Die Gerichte haben die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 6 Abs. 1 GG grundsätzlich verkannt. Das Verwaltungsgericht Magdeburg führt aus, der Beschwerdeführer könne sich nicht auf Art. 6 Abs. 1 GG berufen, da er mit seiner Lebensgefährtin lediglich nach traditionellem Ritus verheiratet sei und die Tochter seiner Lebensgefährtin nicht seine (rechtliche) Tochter sei. Damit missachtet das Verwaltungsgericht, dass der Familienschutz des Art. 6 Abs. 1 GG eine rechtliche Verwandtschaftsbeziehung nicht voraussetzt, sondern auch gelebte sozial-familiäre Bindungen erfasst.

Weiter ist es aus verfassungsrechtlicher Perspektive bedenklich, dass das Verwaltungsgericht Magdeburg10 annimmt, es bestehe, weil der Beschwerdeführer sich nicht frühzeitig um einen Termin bei der deutschen Botschaft in Benin gekümmert habe, um dadurch die Dauer einer möglichen Trennung von dem Kind möglichst kurz zu halten, gar kein „schützenswertes Interesse“. Dass das Verwaltungsgericht Magdeburg mit dieser Begründung eine Prüfung des Kindeswohls insgesamt unterlässt und die Rechte des Kindes wegen einer Obliegenheitsverletzung des Beschwerdeführers schlechthin unberücksichtigt bleiben, ist mit dem nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG gebotenen staatlichen Schutz des Kindeswohls nicht in Einklang zu bringen. Denn mangelnde Kooperationsbereitschaft und selbst Fehlverhalten eines Ausländers in eigenen, aufenthaltsrechtlichen Angelegenheiten darf nicht zu einer Verkürzung der (Verfahrens-)Rechte eines an diesen Entscheidungen unbeteiligten, staatlichem Schutz unterstehenden Kindes führen. Vielmehr gebietet es der Schutzauftrag aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG, bei jeder aufenthaltsrechtlichen Entscheidung die Konsequenzen für das betroffene Kind auf seine Vereinbarkeit mit dem Kindeswohl zu untersuchen.

Auch das Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt11 hat sich der Würdigung des Verwaltungsgerichts Magdeburg angeschlossen und hat damit ebenfalls den Umfang des Gewährleistungsbereichs von Art. 6 Abs. 1 GG verkannt. Wenn es zudem unterstellt, dass das Kind im Falle einer Trennung vom Beschwerdeführer wohl „große Traurigkeit und Verlustängste“ erleiden werde, ohne dies weiter aufzuklären, wird dadurch dem Kindeswohl in seiner verfassungsrechtlichen Dimension erneut nicht ausreichend Rechnung getragen. Denn es mangelt gerade an Feststellungen dazu, in welchem Maß das Kind durch eine (auch vorübergehende) Trennung von der Person, die nach Einschätzung der Fachgerichte die „Vaterrolle eingenommen“ hat und zu der das Kind eine „besondere emotionale Bindung“ aufweist, belastet würde. Damit konnte aber das Kindeswohl nicht entsprechend seiner tatsächlichen Bedeutung im Einzelfall in die Abwägung dazu, ob das öffentliche Interesse an der Durchführung des Visumverfahrens gegenüber dem durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Interesse des Ausländers an der Aufrechterhaltung der familiären Lebensgemeinschaft und den durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Belangen des Kindes im Einzelfall überwiegt, eingestellt werden.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 17. April 2024 – 2 BvR 244/24

  1. vgl. BVerfGE 79, 256 <267> 108, 82 <112>
  2. vgl. BVerfGE 68, 167 <187> 79, 51 <59> 80, 81 <90> 99, 216 <231 f.> 108, 82 <107, 116> 133, 59 <82 f. Rn. 62> 151, 101 <124 Rn. 56>
  3. vgl. BVerfGE 10, 59 <66> 18, 97 <105 f.> 45, 104 <123> 79, 256 <267> 108, 82 <112> zur Familieneigenschaft eines nicht-verheirateten Paares mit einem nur von einem Elternteil abstammenden Kind: BVerfGE 151, 101 <124 f. Rn. 56>
  4. BVerfGE 133, 59 <82 Rn. 60>
  5. vgl. BVerfGE 76, 1 <47> BVerfGK 7, 49 <54 f.>
  6. vgl. BVerfGE 76, 1 <49 ff.> 80, 81 <93>
  7. vgl. BVerfG, Beschluss vom 05.06.2013 – 2 BvR 586/13, Rn. 12 m.w.N.
  8. vgl. BVerfGK 13, 26 <27 f.>
  9. vgl. BVerfGK 13, 562 <567>
  10. VG Magdeburg, Beschluss vom 06.11.2023 – 2 B 285/23 MD
  11. OVG LSA, Beschluss vom 18.01.2024 – 2 M 134/23