Übermittlung von Sozialdaten des Jugendamts an die Ausländerbehörde
Die Befugnis zur Datenübermittlung zwischen Jugendamt und Ausländerbehörde nach § 71 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. d) SGB X erfasst auch Sozialdaten erwachsener Ausländer und ist nicht auf Fälle beschränkt, in denen aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen Jugendliche oder Heranwachsende im Raum stehen.
In dem hier vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall begehrte ein vollziehbar ausreisepflichtiger Nigerianer die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Datenübermittlung zwischen Jugendamt und Ausländerbehörde. Er hat eine 2019 geborene, im Bundesgebiet lebende Tochter deutscher Staatsangehörigkeit. Zur Prüfung der nachträglichen Befristung seiner Ausweisung ersuchte die Ausländerbehörde das Jugendamt um Auskunft zum Umgang des Ausländers mit seiner Tochter. Daraufhin übermittelte das Jugendamt Informationen zur Umsetzung eines zwischen dem Ausländer und der Kindsmutter geschlossenen gerichtlichen Vergleichs über das Umgangsrecht sowie eigene Einschätzungen zur zukünftigen Entwicklung der Vater-Kind-Beziehung.
Die auf Feststellung der Rechtswidrigkeit dieser Übermittlung gerichtete Klage des Ausländers ist in den Vorinstanzen vor dem Verwaltungsgericht Hannover1 und dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht2 ohne Erfolg geblieben. Die hiergegen gerichtete, auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Nichtzulassungsbeschwerde des Ausländers hat das Bundesverwaltungsgericht nun ebenfalls als unbegründet abgewiesen:
Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt einer Rechtssache nur zu, wenn eine konkrete fallübergreifende und bislang höchstrichterlich ungeklärte Rechtsfrage des revisiblen Rechts für die angefochtene Entscheidung der Vorinstanz von Bedeutung war, deren Klärung im Revisionsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist. Ein die Revisionszulassung rechtfertigender Klärungsbedarf besteht nicht, wenn die Rechtsfrage auf der Grundlage der bundesgerichtlichen Rechtsprechung oder des Gesetzeswortlauts mithilfe der üblichen Auslegungsregeln eindeutig im Sinne der Entscheidung des Berufungsgerichts beantwortet werden kann3.
Nach § 71 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. d) SGB X ist eine Übermittlung von Sozialdaten eines Ausländers, soweit sie im Einzelfall auf Ersuchen der mit der Ausführung des Aufenthaltsgesetzes betrauten Behörden nach § 87 Abs. 1 AufenthG erforderlich ist, mit der Maßgabe zulässig, dass über die Angaben nach § 68 hinaus für die Entscheidung über den weiteren Aufenthalt oder die Beendigung des Aufenthalts eines Ausländers, bei dem ein Ausweisungsgrund nach den §§ 53 bis 56 des Aufenthaltsgesetzes vorliegt, nur Angaben über das zu erwartende soziale Verhalten mitgeteilt werden können.
Die Beschwerde wirft als grundsätzlich bedeutsam die Frage auf: „Ist die Vorschrift des § 71 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 lit. d) SGB X entsprechend dem historischen Willen des Gesetzgebers nur auf Auskünfte des Jugendamtes über das zu erwartende zukünftige Verhalten eines jugendlichen Ausländers anwendbar, oder kann diese Vorschrift beliebig auch auf Sachverhalte erwachsener Ausländer bis hin zu Sachverhalten, die auch deren deutsche Verwandte umfassen, ausgedehnt werden?„
Diese auf die Bestimmung des persönlichen Anwendungsbereichs des § 71 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. d) SGB X zielende Frage rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, denn sie lässt sich auch ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens aufgrund des Gesetzeswortlauts eindeutig beantworten.
Wie das Oberverwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, sind weder dem Wortlaut noch der Systematik des Gesetzes Anhaltspunkte für eine Beschränkung des Anwendungsbereichs von § 71 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. d) SGB X auf jugendliche oder heranwachsende Ausländer zu entnehmen. Der Bundesrat hatte im Gesetzgebungsverfahren die Schaffung von Übermittlungsbefugnissen zwischen Jugendämtern und Ausländerbehörden angeregt, da gutachterliche Stellungnahmen der Jugendämter bis dato von den Ausländerbehörden nicht ohne Weiteres zur Entscheidungsfindung herangezogen werden konnten4. Auch wenn den Gesetzgebungsorganen bei der Neuregelung die Fallgruppe der Ausweisung jugendlicher Ausländer vor Augen stand, rechtfertigt dieser Regelungsanlass nach dem objektivierten Willen des Gesetzgebers keine dahingehende Beschränkung des Anwendungsbereichs der Vorschrift. Denn die Regelung ist ganz allgemein darauf gerichtet, Ausländerbehörden im Rahmen ihnen obliegender Entscheidungen über aufenthaltsbeendende Maßnahmen, von denen auch Jugendliche (un-)mittelbar betroffen sein können, Zugriff auf das Wissen und die Expertise der Jugendämter zu eröffnen. Mit Blick auf die wertentscheidende Grundsatznorm des Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 GG und das potentielle Gewicht aufenthaltsbeendender Maßnahmen auch für Dritte wie die minderjährigen Kinder eines Ausländers bedürfen Entscheidungen darüber der Ermittlung einer fundierten Tatsachengrundlage5. Damit die Ausländerbehörden diesem im Verfassungsrecht wurzelnden Aufklärungsauftrag sachgerecht nachkommen können, spricht auch der Normzweck dafür, den Anwendungsbereich des § 71 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. d) SGB X weit zu fassen und nicht auf Fälle zu beschränken, in denen aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen jugendliche oder heranwachsende Ausländer im Raum stehen.
Als grundsätzlich klärungsbedürftig erachtet die Beschwerde ferner die Frage, ob die Datenübermittlungsbefugnis aus § 71 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. d) SGB X auch untrennbar mit den Daten eines Ausländers verbundene Daten deutscher Staatsbürger umfasst. Diese Frage ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bereits geklärt. Personenbezogene Daten eines Ausländers im Sinne von § 71 Abs. 2 Satz 1 SGB X a. F. können auch Daten sein, die von einem Familienangehörigen des Ausländers herrühren oder Informationen über diese enthalten; maßgeblich ist eine materielle Betrachtungsweise. Die Daten müssen in unmittelbarem Zusammenhang mit der zu treffenden Entscheidung der Ausländerbehörde stehen. Das ist der Fall, wenn sie zumindest auch Informationen zu der Person enthalten, hinsichtlich der das aufenthaltsrechtliche Verfahren geführt wird6. An dieser zu § 71 Abs. 2 Satz 1 SGB X a. F. ergangenen Rechtsprechung ist festzuhalten. Denn weder hat die Beschwerde dargelegt noch ist ersichtlich, dass mit der Neuformulierung der Rechtsfolge durch den Gesetzgeber (§ 71 Abs. 2 SGB X a. F.: „Eine Offenbarung personenbezogener Daten eines Ausländers …“; nunmehr § 71 Abs. 2 Satz 1 SGB X: „Eine Übermittlung von Sozialdaten eines Ausländers …“) eine inhaltliche Einschränkung des Kreises potentiell mitbetroffener Dritter auf nichtdeutsche Staatsangehörige verbunden sein sollte.
Schließlich besitzt die Frage
„Kann auf § 71 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 lit. d) SGB X auch die Datenübermittlung von Daten deutscher Staatsbürger gestützt werden, die den Stand und die Prognose einer Vater-Kind-Beziehung betreffen?“
keine grundsätzliche Bedeutung, denn sie beantwortet sich unmittelbar aus dem Gesetzeswortlaut. Oben wurde bereits ausgeführt, dass § 71 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. d) SGB X mit dem Ziel in das Gesetz aufgenommen worden ist, die Einführung jugendamtlicher Stellungnahmen in aufenthaltsrechtliche Verfahren zu ermöglichen. Mit dem Wortlaut der Vorschrift „… Angaben über das zu erwartende soziale Verhalten …“ hat der Gesetzgeber die Übermittlungsbefugnis explizit auf Verhaltensprognosen erstreckt. Um eine solche Prognose zutreffend stellen zu können, muss das Jugendamt sämtliche ihm bekannte Informationen zu dem Ausländer berücksichtigen, einschließlich seiner Beziehungen zu Verwandten. Es liegt auf der Hand, dass die Staatsangehörigkeit als rechtliches Statusmerkmal betroffener Dritter im Kontext der Bestimmung der Reichweite der sozialrechtlichen Übermittlungsbefugnis von Sozialdaten gemäß § 71 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. d) SGB X ohne Bedeutung ist.
Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 21. November 2024 – 6 B 8.24
- VG Hannover, Urteil vom 14.07.2021 – 10 A 215/21↩
- Nds. OVG, Urteil vom 28.11.2023 – 11 LC 273/21↩
- stRspr; vgl. zuletzt BVerwG, Beschluss vom 27.03.2024 – 6 B 71.23 – N&R 2024, 168 Rn. 7↩
- BT-Drs. 11/6541 S. 9↩
- vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 10.05.2008 – 2 BvR 588/08 – InfAuslR 2008, 347 Rn. 11 ff.↩
- BVerwG, Beschluss vom 10.07.1989 – 5 B 59.89 2 ff.↩