Visumantragstellungsfrist für den Kindernachzug zum anerkannten Flüchtling

Sind nachzugswillige Kinder eines als Flüchtling anerkannten Elternteils zum Zeitpunkt der Visumantragstellung volljährig, besteht kein Anspruch auf Kindernachzug nach § 32 Abs. 1 AufenthG. Ein solcher Anspruch kann allerdings unmittelbar aus Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c RL 2003/86/EG folgen1. Eine bei der Ausländerbehörde abgegebene sogenannte fristwahrende Anzeige nach § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 i. V. m. Satz 3 AufenthG stellt keinen Visumantrag im Sinne des § 81 Abs. 1 AufenthG dar. 

Die Versäumung der Frist für die Visumantragstellung kann nachzugswilligen Kindern nicht entgegengehalten werden, wenn eine hinreichende Information über die Frist und die zu ihrer Einhaltung erforderlichen Maßnahmen nicht erfolgte und die Überschreitung der Frist aufgrund besonderer Umstände objektiv entschuldbar war.

In dem hier vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall begehren zwei in den Jahren 1999 und 2001 geborene syrische Frauen die Erteilung von nationalen Visa zum Zweck der Familienzusammenführung. Ihr Vater (Stammberechtigter) wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 13.11.2015 als Flüchtling anerkannt. Mit Schreiben vom 02.02.2016 bekundete der Vater gegenüber der seinerzeit zuständigen Ausländerbehörde sein Begehren, die in Syrien befindliche Familie nach Deutschland nachzuholen. Am 11.02.2020 beantragten die Töchter gemeinsam mit weiteren Familienangehörigen bei der Deutschen Botschaft in Beirut die Erteilung von Visa zum Zweck des Familiennachzuges zu dem Stammberechtigten. Die Botschaft lehnte die Anträge ab, da die Töchter bei Antragstellung bereits volljährig gewesen seien und die die Voraussetzungen des § 36 Abs. 2 AufenthG nicht vorlägen; insbesondere erfülle das für die ältere Tochter vorgelegte Attest als auch der Umstand, dass beide Töchter als alleinstehende Frauen in Syrien leben müssten, nicht die Anforderungen für die Begründung einer besonderen Härte.

Das erstinstanzlich hiermit befasste Verwaltungsgericht Berlin hat die Bundesrepublik verpflichtet, den Töchter Visa zum Familiennachzug zu erteilen ((VG Berlin, Urteil vom 13.03.2023 – 36 K 176/21 V)). Die hiergegen gerichtete Revision der Bundesrepublik hat das Bundesverwaltungsgericht als unbegründet zurückgewiesen; das Urteil des Verwaltungsgerichts verletze zwar Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), indem es den Töchter einen Anspruch auf Erteilung von Visa zur Familienzusammenführung mit einem als Flüchtling anerkannten Elternteil aus § 32 Abs. 1 AufenthG zuerkenne, es erweise sich jedoch aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO), weil den Töchter ein solcher Anspruch unmittelbar aus Art. 4 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22.09.2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung2 zustände:

Unter Verstoß gegen Bundesrecht hat das Verwaltungsgericht einen Anspruch der Töchter auf Erteilung der begehrten Visa aus § 32 AufenthG bejaht.

Gemäß § 6 Abs. 3 Satz 2 AufenthG richtet sich die Erteilung eines (nationalen) Visums zur Einreise nach den für die Aufenthaltserlaubnis geltenden Vorschriften. Nach der vom Verwaltungsgericht im Hinblick auf die begehrte Erteilung von Visa zum Kindernachzug zum anerkannten Flüchtling herangezogenen Anspruchsgrundlage des § 32 Abs. 1 AufenthG ist dem minderjährigen Kind eines Ausländers eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn beide Eltern oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil unter anderem eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG als anerkannter Flüchtling haben.

Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei Verpflichtungsklagen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels – wie der vorliegenden – grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz. Aus Gründen des materiellen Rechts gilt für den Fall, dass ein Anspruch an eine gesetzliche Altersgrenze knüpft, eine Ausnahme von diesem Grundsatz. Setzt der Anspruch die Minderjährigkeit des Antragstellers voraus, so muss diese zum Zeitpunkt der Antragstellung vorliegen. Die übrigen Voraussetzungen für den Kindernachzug müssen spätestens auch im Zeitpunkt des Erreichens der Altersgrenze und zu dem der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz gegeben sein, sodass alle Voraussetzungen wenigstens einmal zeitgleich erfüllt sein müssen. Nach diesem Zeitpunkt eingetretene Sachverhaltsänderungen zugunsten des Betroffenen können nicht berücksichtigt werden. Bei Anspruchsgrundlagen, die eine Altersgrenze enthalten, die der Betroffene im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Verhandlung oder Entscheidung überschritten hat, ist mithin eine auf zwei unterschiedliche Zeitpunkte bezogene Doppelprüfung erforderlich3.

Danach haben die Töchter keinen Anspruch nach § 32 Abs. 1 AufenthG, weil sie zum maßgeblichen Zeitpunkt der Visumantragstellung bei der Auslandsvertretung im Februar 2020 bereits volljährig waren. Eine Auslegung des § 32 Abs. 1 AufenthG dahin, dass sich die Minderjährigkeit des Kindes anhand des Zeitpunkts der Asylantragstellung des zusammenführenden Elternteils beurteilt, ist in Anwendung der allgemein anerkannten Auslegungsregeln nicht möglich, auch wenn Art. 4 Abs. 1 RL 2003/86/EG nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ein Abstellen auf diesen Zeitpunkt gebietet4.

Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts stellt eine bei der Ausländerbehörde abgegebene sogenannte fristwahrende Anzeige nach § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 i. V. m. Satz 3 AufenthG, die nach Auffassung der Beteiligten und des Verwaltungsgerichts in der vom Vater der Töchter im Februar 2016 abgegebenen Erklärung zu sehen ist, keinen Visumantrag dar. Die Erklärung bewirkt lediglich, dass bei einer Antragstellung auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Zuge des Familiennachzuges innerhalb von drei Monaten ab unanfechtbarer Schutzgewährung von den Voraussetzungen der Lebensunterhalts- und Wohnraumsicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 und § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG abzusehen ist.

Diese Regelung soll dem Umstand Rechnung tragen, dass dem Familienangehörigen eines Flüchtlings aufgrund besonderer Umstände im Aufenthaltsstaat eine fristgerechte Antragstellung unter Umständen nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen möglich ist, und dient der Umsetzung von Art. 12 Abs. 1 RL 2003/86/EG5. Gleichwohl ist nach den – von Art. 5 Abs. 1 RL 2003/86/EG gedeckten – § 71 Abs. 2 Satz 1 und § 81 Abs. 1 AufenthG der Visumantrag von dem nachzugswilligen Ausländer bei der zuständigen Auslandsvertretung zu stellen. Eine Modifikation dieser Vorgaben ist § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 und Satz 3 AufenthG insbesondere im Hinblick auf die Regelungsintention des Gesetzgebers nicht zu entnehmen.

Die vom Verwaltungsgericht ausgesprochene Verpflichtung der Bundesrepublik zur Erteilung von Visa zum Familiennachzug an die Töchter erweist sich jedoch aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO), weil die Töchter einen Anspruch aus Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c RL 2003/86/EG haben. Danach gestatten die Mitgliedstaaten den minderjährigen Kindern des Zusammenführenden, der das Sorgerecht besitzt und für den Unterhalt der Kinder aufkommt, die Einreise und den Aufenthalt. Die Voraussetzungen für eine unmittelbare Anwendung der Richtlinienvorschrift liegen vor6.

Für den Kindernachzug zu einem als Flüchtling anerkannten Elternteil hat der Gerichtshof Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c RL 2003/86/EG dahin ausgelegt, dass für die Feststellung, ob das Kind, wenn es vor der Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist, minderjährig im Sinne dieser Bestimmung ist, der Zeitpunkt maßgebend ist, zu dem der zusammenführende Elternteil seinen Asylantrag gestellt hat, sofern der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb von drei Monaten nach Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling gestellt wurde7. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass die praktische Wirksamkeit des Rechts auf Familiennachzug nicht von der Dauer der Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz durch die nationale Behörde abhängen, sondern sichergestellt sein soll, dass der Erfolg des Antrags auf Familienzusammenführung in erster Linie von Umständen abhängt, die in der Sphäre der Antragsteller liegen8.

Die mit der Dreimonatsfrist bewirkte Begrenzung der Möglichkeit, sich für den Familiennachzug auf die bei Asylantragstellung des zusammenführenden Familienangehörigen noch bestehende Minderjährigkeit zu berufen, beruht darauf, dass es dem Ziel des zum Schutz von Minderjährigen geregelten Nachzugsanspruchs nicht entspräche, wenn sich die Betroffenen hierauf ohne zeitliche Grenze berufen könnten, und dass einem Antrag auf Familienzusammenführung grundsätzlich kein Hindernis aus der behördlichen Sphäre mehr entgegensteht, wenn über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an den zusammenführenden Familienangehörigen entschieden ist. Der Gerichtshof hat deshalb eine Antragstellung innerhalb einer angemessenen Frist für erforderlich gehalten, die er in Anlehnung an Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 RL 2003/86/EG auf drei Monate bestimmt hat9. Eine Frist für die Visumantragstellung kann jedoch nicht zu laufen beginnen, bevor das nachzugswillige Kind volljährig wird10. Die sich hieraus ergebenden Fristen für die Visumantragstellung haben die Töchter nicht eingehalten.

Eine verspätete Antragstellung kann dem nachzugswilligen Kind allerdings ausnahmsweise nicht entgegengehalten werden, wenn eine hinreichende Information über die Frist und die zu ihrer Einhaltung erforderlichen Maßnahmen nicht erfolgte und die Überschreitung der Frist aufgrund besonderer Umstände objektiv entschuldbar war. Dies ergibt sich aus einer entsprechenden Anwendung der im Rahmen des Art. 12 Abs. 1 RL 2003/86/EG geltenden Grundsätze. Eine andere Handhabung wäre mit dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz nicht zu vereinbaren, nach dem verfahrensrechtliche Regelungen die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen; dies ist unter anderem unter Berücksichtigung des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen innerstaatlichen Stellen zu prüfen11. Daran anknüpfend steht Art. 12 Abs. 1 RL 2003/86/EG einer nationalen Regelung, nach der ein Antrag auf Familienzusammenführung unter den günstigeren Bedingungen des Kapitels V der Richtlinie 2003/86/EG wegen einer Versäumung der in Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 RL 2003/86/EG genannten Frist abgelehnt werden kann, nur dann nicht entgegen, wenn die Regelung unter anderem vorsieht, dass ein solcher Ablehnungsgrund in Fällen unzulässig ist, in denen die verspätete Stellung des Antrags aufgrund besonderer Umstände objektiv entschuldbar ist und dass die betroffenen Personen in vollem Umfang über die Folgen der Entscheidung zur Ablehnung ihres Antrags und die Maßnahmen, die sie zu ergreifen haben, um das Recht auf Familienzusammenführung wirksam geltend zu machen, informiert werden12.

Im Hinblick auf die hier in Rede stehende; vom Gerichtshof ebenfalls aus Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 RL 2003/86/EG abgeleitete Frist finden diese Grundsätze entsprechende Anwendung. Ein derartiges Verständnis ergibt sich aus den Zielen der Richtlinie 2003/86/EG. Sie soll die Familienzusammenführung begünstigen und Drittstaatsangehörigen, namentlich Minderjährigen, Schutz gewähren. Wie aus dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie hervorgeht, zielt die Richtlinie darauf ab, Drittstaatsangehörigen, denen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, einen stärkeren Schutz zu gewähren, indem sie günstigere Bedingungen für die Ausübung ihres Rechts auf Familienzusammenführung vorsieht, da ihrer Lage wegen der Gründe, die sie zur Flucht gezwungen haben und die sie daran hindern, ein normales Familienleben zu führen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Die Bestimmungen der Richtlinie müssen zudem im Lichte von Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 GRC ausgelegt werden; daher müssen die zuständigen nationalen Behörden alle zu berücksichtigenden Interessen, insbesondere die der betroffenen Kinder, ausgewogen und sachgerecht bewerten13. Diesen Zielen der Richtlinie kann in Fällen wie dem vorliegenden nur dann in unionsrechtskonformer Weise Rechnung getragen werden, wenn die Fristversäumnis unter den bezeichneten Voraussetzungen einem nachzugswilligen Kind nicht entgegengehalten werden darf. An der Richtigkeit dieser Interpretation des Unionsrechts bestehen keine vernünftigen Zweifel. Der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV bedarf es daher nicht14.

Die bezeichneten Voraussetzungen liegen hier vor. Mangels hinreichender Informationen im Hinblick auf die einzuhaltende Frist und der objektiven Entschuldbarkeit der verspäteten Antragstellung aufgrund der Umstände des Einzelfalls steht die Fristversäumung dem Anspruch der Töchter nicht entgegen.

Die Bindung des Visumantrags an die genannte Frist konnte den Töchter nicht bekannt sein, da sie sich erst aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs15 ergibt. Dieser Rechtsprechung war das Erfordernis einer zeitnahen Antragstellung in der vorliegenden Fallgestaltung des Kindernachzuges erst nach dem Ablauf der im Falle der Töchter einzuhaltenden Fristen hinreichend klar zu entnehmen. Soweit die Bundesrepublik auf die Möglichkeit verweist, einen Visumantrag während des Laufs der Frist auch anders als im Rahmen einer persönlichen Vorsprache bei einer Auslandsvertretung – etwa per E-Mail oder Telefax – zu stellen, sind die Töchter hierüber nicht hinreichend deutlich und unmissverständlich informiert worden, wie sich aus den bindenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts und dem Vorbringen der Beteiligten im Revisionsverfahren ergibt. Vielmehr lag für die Töchter mangels verlässlicher anderweitiger Informationen der Eindruck nahe, mit dem Schreiben ihres Vaters vom 02.02.2016 sei alles zur Fristwahrung Erforderliche getan.

Die Töchter waren nach den gemäß § 137 Abs. 2 und § 134 Abs. 4 VwGO bindenden tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts unverschuldet und damit objektiv entschuldbar an der rechtzeitigen persönlichen Antragstellung bei der Auslandsvertretung gehindert. Im Klageverfahren haben sie geltend gemacht, sie hätten zu einem früheren Zeitpunkt erfolglos versucht, Termine für die Beantragung der Visa zu bekommen. Am 27.10.2015 sei für sie ein Termin am 17.05.2016 bei der deutschen Botschaft in Istanbul vereinbart worden, den sie aber hätten absagen müssen, weil die Grenze zwischen Syrien und der Türkei geschlossen und ein Übergang nicht möglich gewesen sei. Daraufhin hätten sie Referenznummern für Termine zur Beantragung von Visa bei der deutschen Botschaft in Beirut gebucht. Ein erster Termin dort am 9.05.2018 habe von ihnen nicht wahrgenommen werden können, weil ihnen ein Grenzübertritt von Syrien aus in den Libanon nicht möglich gewesen sei. Die Familie habe sieben bis acht Monate für den Weg nach Aleppo benötigt, da der Weg über Afrin nicht passierbar gewesen sei. Zudem sei die Reise aufgrund der Erkrankung der älteren Tochter schwierig gewesen. Ende 2018 beziehungsweise Anfang 2019 habe die Familie zuerst neue Referenznummern und schließlich den Termin am 11.02.2020 bei der Botschaft in Beirut erhalten, der bereits aufgrund des Terminstandes zehn bis zwölf Monate zuvor gebucht worden sei. Das Verwaltungsgericht hat die Mutter der Töchter als Zeugin dazu vernommen, welche Umstände dazu geführt haben, dass ein Vorsprachetermin bei der deutschen Auslandsvertretung erst am 11.02.2020 realisiert worden ist. Daraufhin ist es zu der Überzeugung gelangt, dass die wesentliche Ursache für die erhebliche Dauer des Visumverfahrens nicht auf ein Nichtbetreiben durch die Töchter, sondern auf die von ihnen vorgefundenen äußeren Umstände zurückgehe, die durch den Bürgerkrieg in Syrien sowie den Grenzkonflikt der Türkei mit Syrien („Operation Olivenzweig“) geprägt seien. Insbesondere haben sich die Töchter hiernach fortwährend um die rechtzeitige Antragstellung bei diversen deutschen Auslandsvertretungen bemüht. Der daraus gezogene Schluss, das Unterbleiben einer fristgemäßen Antragstellung sei unverschuldet, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

Die übrigen, bei einem unmittelbar aus Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c RL 2003/86/EG begründeten Anspruch entsprechend geltenden nationalrechtlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Familiennachzuges liegen nach den bindenden tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts vor. Auf dieser Grundlage ist gemäß § 29 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vom Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG; und vom Wohnraumerfordernis des § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG abzusehen. Es ist auch nicht ersichtlich, dass den Töchter und ihrer Familie die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft in einem Staat möglich wäre, der nicht Mitgliedstaat der Europäischen Union ist und zu dem sie eine besondere Bindung hätten (§ 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AufenthG). Die sonstigen allgemeinen Voraussetzungen für die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen liegen nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts vor.

 

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 29. August 2024 – 1 C 9.23

  1. Bestätigung von BVerwG, Beschluss vom 23.04.2020 – 1 C 16.19, Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 113 Rn. 11
  2. ABl. L 251 S. 12 – RL 2003/86/EG
  3. BVerwG, Urteil vom 07.04.2009 – 1 C 17.08, BVerwGE 133, 329 Rn. 10 und Beschluss vom 23.04.2020 – 1 C 16.19, Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 113 Rn. 9
  4. vgl. BVerwG, Beschluss vom 23.04.2020 – 1 C 16.19, Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 113 Rn. 10
  5. BT-Drs. 16/5065 S. 172
  6. BVerwG, Beschluss vom 23.04.2020 – 1 C 16.19, Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 113 Rn. 11
  7. EuGH, Urteil vom 01.08.2022 – C-279/20 [ECLI:​​EU:​​C:​​2022:​​618], Rn. 54; vgl. entsprechend zum Nachzug der Eltern zum unbegleiteten minderjährigen Flüchtling EuGH, Urteil vom 12.04.2018 – C-550/16 [ECLI:​​EU:​​C:​​2018:​​248], Rn. 64
  8. vgl. EuGH, Urteile vom 12.04.2018 – C-550/16, Rn. 55 und 60; und vom 01.08.2022 – C-279/20, Rn. 47 ff.
  9. vgl. EuGH, Urteile vom 12.04.2018 – C-550/16, Rn. 61; und vom 01.08.2022 – C-279/20, Rn. 53
  10. vgl. EuGH, Urteil vom 30.01.2024 – C-560/20 [ECLI:​​EU:​​C:​​2024:​​96], Rn. 40
  11. vgl. EuGH, Urteil vom 07.11.2018 – C-380/17 [ECLI:​​EU:​​C:​​2018:​​877], Rn. 56 und 58
  12. EuGH, Urteil vom 07.11.2018 – C-380/17, Rn. 66
  13. vgl. EuGH, Urteil vom 18.04.2023 – C-1/23 PPU [ECLI:​​EU:​​C:​​2023:​​296], Rn. 42 ff.
  14. vgl. EuGH, Urteil vom 09.09.2015 – C-160/14 [ECLI:​​EU:​​C:​​2015:​​565], Rn. 38
  15. BVerwG, Urteile vom 12.04.2018 – C-550/16; vom 01.08.2022 – C-279/20; und vom 30.01.2024 – C-560/20, Rn. 40