Ein Rechtsanwalt für die Rechtsbeschwerde in Haftfällen
§ 62d AufenthG begründet keine Pflicht zur Bestellung eines beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalts für die Durchführung eines Rechtsbeschwerdeverfahrens nach §§ 70 ff. FamFG.
Das folgt für den Bundesgerichtshof aus Wortlaut, Systematik sowie Sinn und Zweck der Vorschrift.
Der Wortlaut der Bestimmung fordert eine solche Bestellung nicht. Gemäß § 62d AufenthG bestellt das Gericht zur richterlichen Entscheidung über die Anordnung von Abschiebungshaft nach § 62 AufenthG und Ausreisegewahrsam nach § 62b AufenthG dem Betroffenen, der noch keinen anwaltlichen Vertreter hat, von Amts wegen für die Dauer des Verfahrens einen anwaltlichen Vertreter als Bevollmächtigten. Diese Bestellung ist – wie hier geschehen – bereits im ersten Rechtszug vorzunehmen und gilt auch für die Dauer etwaiger, sich daran anschließender Rechtsmittelverfahren. Zwar kann der im ersten Rechtszug bestellte Bevollmächtigte den Betroffenen im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht vertreten, weil nach § 10 Abs. 4 Satz 1 FamFG dort nur beim Bundesgerichtshof zugelassene Rechtsanwälte postulationsfähig sind. § 62d AufenthG sieht nach seinem Wortlaut dennoch keine Bestellung eines beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalts für ein beabsichtigtes Rechtsbeschwerdeverfahren vor, weil der Betroffene nach der gesetzlichen Vorgabe zu diesem Zeitpunkt bereits einen anwaltlichen Vertreter hat.
Die Gesetzesmaterialien lassen ebenfalls nicht erkennen, dass § 62d AufenthG die Bestellung eines beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalts neben dem bereits im ersten Rechtszug bestellten Bevollmächtigten erfordert. Die im Gesetzentwurf ursprünglich nicht enthaltene Regelung wurde erst im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens eingefügt1. Die Frage, ob die Vorschrift die Bestellung eines beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalts für die Durchführung des Rechtsbeschwerdeverfahrens verlangt, wurde im Gesetzgebungsverfahren nicht erörtert2.
Angesichts der vom Gesetz durch § 10 Abs. 4 Satz 1, §§ 76 ff. FamFG eröffneten Möglichkeit, die Beiordnung eines Bevollmächtigten für das Rechtsbeschwerdeverfahren nach den Voraussetzungen der Vorschriften der Verfahrenskostenhilfe zu erreichen, besteht nach Sinn und Zweck des § 62d AufenthG auch keine Notwendigkeit für die Bestellung eines beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalts.
Die Vorschrift zielt vor dem Hintergrund der mit der Abschiebungshaft verbundenen Freiheitsentziehung und des damit einhergehenden Eingriffs in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG darauf ab, es dem Ausländer mithilfe eines anwaltlichen Vertreters zu ermöglichen, seine Rechte in dem für ihn in der Regel unbekannten Verfahren der Anordnung der Abschiebungshaft geltend zu machen3. Bei dem zu bestellenden Vertreter soll es sich – wegen der Komplexität der Rechtsmaterie sowie angesichts der Bedeutung des mit der Abschiebungshaft verbundenen Eingriffs – um einen fachkundigen Rechtsanwalt handeln, der im Regelfall aus einem entsprechenden Verzeichnis der Bundesrechtsanwaltskammer auszuwählen ist.
Dieser mit der Vorschrift verfolgte Zweck wird durch die bereits im ersten Rechtszug erfolgte Bestellung eines fachkundigen Rechtsanwalts erreicht.
Dieser Bevollmächtigte kann und soll den Betroffenen über die rechtlichen Voraussetzungen der Abschiebungshaft aufklären, ihm in der besonders belastenden Haftsituation rechtlichen Beistand leisten und dabei insbesondere dessen Rechte in der persönlichen Anhörung vor dem Haftgericht zur Geltung bringen. Zudem wird er im Anschluss überprüfen, ob die Haftanordnung rechtmäßig ergangen ist und den Betroffenen gegebenenfalls auch beraten, ob ein Rechtsmittel Aussicht auf Erfolg hat. Er kann sodann Beschwerde einlegen und den Betroffenen auch im Beschwerdeverfahren vertreten. Gibt die Entscheidung des Beschwerdegerichts Anlass, an der Rechtmäßigkeit der Haftanordnung zu zweifeln, so kann der bestellte Rechtsanwalt prüfen, ob eine Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof Aussicht auf Erfolg hat. Bejaht er diese Frage, kann er durch Stellung eines Verfahrenskostenhilfeantrags auch bei Mittellosigkeit des Betroffenen dafür Sorge tragen, dass ihm im Rechtsbeschwerdeverfahren ein postulationsfähiger Rechtsanwalt beigeordnet wird. Den dafür erforderlichen Antrag kann der im ersten Rechtszug bestellte Rechtsanwalt nach § 10 Abs. 4 Satz 1 FamFG selbst stellen. Dazu ist er auch befugt, da seine Bestellung nach der Regelungssystematik des § 62d AufenthG bis zum rechtskräftigen Abschluss des Haftanordnungsverfahrens fortbesteht.
Der Verweis auf das Verfahren zur Bestellung eines Pflichtverteidigers nach §§ 140 ff. StPO4 vermag kein anderes Ergebnis zu rechtfertigen. Die verfahrensrechtlichen Vorgaben für die anwaltliche Vertretung im Rechtsbeschwerdeverfahren vor dem Bundesgerichtshof nach §§ 70 ff. FamFG sind insoweit nicht vergleichbar. Die Strafprozessordnung sieht, anders als das Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, keine Vertretung durch einen besonderen, beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt vor und kennt mit Ausnahme der für die Nebenklage und das Adhäsionsverfahren geltenden Vorschriften (§§ 397a Abs. 2, § 404 Abs. 5 StPO) auch kein der Verfahrenskostenhilfe vergleichbares Instrument, das neben der Pflichtverteidigung steht.
Das Auslegungsergebnis steht schließlich in Einklang mit dem Hauptanliegen sowie dem beschränkten verfahrensrechtlichen Regelungsgegenstand des Rückführungsverbesserungsgesetzes. Das Gesetz zielt darauf ab, durch verschiedene Änderungen unter anderem des Aufenthalts- und des Asylgesetzes Rückführungen von Ausländern zu erleichtern, die vollziehbar ausreisepflichtig sind und die Kosten für die Haushalte des Bundes und der Länder im Grundsatz zu verringern5. Finanzielle Auswirkungen der Vorschrift des § 62d AufenthG auf die Justiz des Bundes, welche die Kosten für die Bestellung eines beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalts zu tragen hätte (§ 45 Abs. 3 Satz 1 RVG), hat der Gesetzgeber nicht gesehen. In der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat, mit der § 62d AufenthG in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht worden ist, werden lediglich nicht abschätzbare Auswirkungen der Neuregelung auf die Kosten für die Justiz der Länder erwähnt6.
Es fehlen damit zureichende Anhaltspunkte, die eine erweiternde Auslegung des § 62d AufenthG rechtfertigen könnten. Soweit mit der Regelung eine Besserstellung des betroffenen Ausländers bei der Geltendmachung seiner Rechte im Haftanordnungsverfahren bezweckt werden soll, wird dies – wie gezeigt – auch im Rechtsbeschwerdeverfahren erreicht. Anders als nach bisheriger Rechtslage kann der betroffene Ausländer nunmehr für die Zwecke der Verfahrenskostenhilfe auf den Beistand des ihm bereits bestellten Rechtsanwalts zurückgreifen.
Nach diesen Maßgaben war kein beim Bundesgerichtshof zugelassener Rechtsanwalt als Bevollmächtigter zu bestellen. Der Betroffene hat bereits einen anwaltlichen Vertreter, nachdem das Amtsgericht Rechtsanwältin S als Bevollmächtigte für die Dauer des Verfahrens bestellt hat. Dabei kann dahinstehen, ob diese Bevollmächtigte hätte entpflichtet werden können, weil der Betroffene sich durch einen weiteren Rechtsanwalt vertreten ließ.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 11. Juni 2024 – XIII ZA 2/24
- vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rückführung [Rückführungsverbesserungsgesetz], BT-Drs.20/9463 vom 24.11.2023, S. 11 sowie Stellungnahme des Bundesrates und Gegenäußerung der Bundesregierung, BT-Drs.20/9642 vom 06.12.2023, S. 7 f.; Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Inneres und Heimat zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs.20/10090 vom 17.01.2024, S. 8, 18↩
- BT-Drs.20/10090, S. 18; Bundestag, Plenarprotokoll 20/147 vom 18.01.2024, S. 18725 ff.; Bundesrat, Plenarprotokoll 1041 vom 02.02.2024, S. 9, 10 f., 39↩
- BT-Drs.20/10090, S. 18↩
- vgl. BT-Drs.20/10090, S. 18↩
- BT-Drs.20/9463, S. 1, 24 f.↩
- BT-Drs.20/10090, S. 4↩