Unzulässigkeitsentscheidungen im Asylverfahren

Die allgemeinen Regelungen des § 34 AsylG gelten für die asylverfahrensrechtliche Abschiebungsandrohung auch bei Unzulässigkeit des Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG, soweit sich aus den §§ 35 bis 37 AsylG keine Besonderheiten ergeben. Bei der Prüfung, ob einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ausnahmsweise die Gefahr einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung im Sinne des Art. 4 GRC in dem schutzgewährenden Mitgliedstaat entgegensteht, ist im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) im Familienverbund in den anderen Mitgliedstaat zurückkehrt1.

In dem hier vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall verließ der klagende nigerianische Staatsangehörige ein Herkunftsland seinen Angaben zufolge im Jahr 2008. Im Jahr 2013 heirateten er und seine Ehefrau – ebenfalls eine nigerianische Staatsangehörige – in Rom. Auch ihre beiden 2013 und 2015 geborenen Kinder kamen in Italien zur Welt. Dem Nigerianer und seinen Angehörigen wurde in Italien subsidiärer Schutz zuerkannt. In der Folge reisten die Ehefrau des Nigerianers und die beiden Kinder ins Bundesgebiet ein. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) stellte zu ihren Gunsten im Jahr 2018 ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Nigerias fest.

Der Nigerianer, der erst im Jahr 2019 ins Bundesgebiet einreiste, wendet sich gegen den Bescheid des BAMF, mit dem sein Asylantrag als unzulässig abgelehnt, das Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG festgestellt, ihm die Abschiebung nach Italien oder einen sonstigen aufnahmebereiten Staat mit Ausnahme Nigerias angedroht und ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet wurde. Seine dagegen gerichtete Klage ist vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart ohne Erfolg geblieben2. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in Mann hat das Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und den Bescheid des BAMF mit Ausnahme der Feststellung, dass der Nigerianer nicht nach Nigeria abgeschoben werden darf, aufgehoben3. Die Unzulässigkeitsentscheidung sei mit Unionsrecht nicht vereinbar. Der Nigerianer drohe bei einer Rückkehr nach Italien in eine Situation zu geraten, die einer ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC gleichzustellen sei. Dabei sei davon auszugehen, dass der Nigerianer zusammen mit seiner Familie nach Italien zurückkehren werde. Es sei nicht hinreichend sichergestellt, dass bei einer Rückkehr des Nigerianers nach Italien zusammen mit seiner Kernfamilie deren besonderer, sich aus dem Alter der 2013 und 2015 geborenen Kinder ergebender Versorgungsbedarf gedeckt sei. Wegen der besonderen Bedürfnisse und Schutzbedürftigkeit von Kindern müssten die EU-Mitgliedstaaten zur Vermeidung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK und Art. 4 GRC vor der Überstellung von Familien mit (Klein-)Kindern nach Italien durch Kooperation mit den italienischen Behörden sicherstellen, dass bei einer Rücküberstellung dorthin ohne Zeitverzug eine kind- und familiengerechte Unterbringung erfolge und möglichen besonderen (medizinischen) Erfordernissen Rechnung getragen werde. Von einer Art. 3 EMRK, Art. 4 GRC Rechnung tragenden Kooperation sei jedenfalls bei Vorliegen einer hinreichend belastbaren Versorgungszusicherung der italienischen Behörden regelmäßig auszugehen. Daran fehle es hier. Der angefochtene Bescheid könne auch im Übrigen überwiegend keinen Bestand haben. 

Auf die hiergegen erhobene Revision des BAMF hob das Bundesverwaltungsgericht das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs auf und verwies die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zurück:

Der Verwaltungsgerichtshof hat den angefochtenen Bescheid aufgehoben, hiervon aber die in Ziffer 3 Satz 4 getroffene Feststellung, dass der Nigerianer nicht nach Nigeria abgeschoben werden darf, ausgenommen. Eine derartige negative Staatenbezeichnung kann indessen bei Aufhebung der Abschiebungsandrohung nicht selbständig fortbestehen4. Bei einem die negative Staatenbezeichnung ausnehmenden Antrag auf Aufhebung einer Abschiebungsandrohung entspricht es bei Fehlen entgegenstehender Anhaltspunkte dem regelmäßigen Interesse des Ausländers, jedenfalls hilfsweise auch die uneingeschränkte Aufhebung der Abschiebungsandrohung zu begehren5. So liegt der Fall hier. Der Antrag des Nigerianers ist daher sachdienlich (§ 86 Abs. 3 VwGO) und im Einklang mit der in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht geäußerten Auffassung der Beteiligten dahin auszulegen, dass die Klage auf die Aufhebung des angefochtenen Bescheids insgesamt gerichtet ist.

Zutreffend hat der Verwaltungsgerichtshof die Ablehnung des Asylantrags des Nigerianers als unzulässig an Art. 4 GRC gemessen und ist in seiner rechtlichen Beurteilung davon ausgegangen, dass die im Rahmen der Prüfung von § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG für den Fall einer Rückkehr ins Herkunftsland aufgestellte Regelvermutung einer gemeinsamen Rückkehr der Kernfamilie als Grundlage der Verfolgungs- und Gefahrenprognose auf die Situation der Rückkehr in einen anderen Mitgliedstaat zu übertragen ist. Die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, es bedürfte ohne Prüfung der allgemeinen Aufnahmebedingungen einerseits und der besonderen Umstände im Einzelfall andererseits bei Familien mit Kindern stets einer individuellen Zusicherung oder einer allgemeinen Erklärung der italienischen Behörden, verletzt hingegen Bundesrecht. Infolgedessen können die tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs nicht seine Schlussfolgerung tragen, dem Nigerianer drohe in Italien die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung.

Nach den gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindenden Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs erfüllt der Nigerianer die geschriebenen Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Gleichwohl kann eine auf diese Vorschrift gestützte Unzulässigkeitsentscheidung aus unionsrechtlichen Gründen rechtswidrig sein6. Das ist der Fall, wenn die Lebensverhältnisse, die den Betroffenen als anerkannten Schutzberechtigten in dem anderen Mitgliedstaat erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC zu erfahren. Unter diesen Voraussetzungen ist es den Mitgliedstaaten untersagt, von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.20137 – RL 2013/32/EU – eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen8. Verstöße gegen Art. 4 GRC im Mitgliedstaat der anderweitigen Schutzgewährung sind damit nicht nur bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen, sondern führen bereits zur Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung.

Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU verbietet einem Mitgliedstaat hingegen nicht, die durch diese Bestimmung eingeräumte Befugnis zur Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig auszuüben, wenn der Antragsteller in dem Mitgliedstaat, der ihm internationalen Schutz gewährt hat, keiner ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, aufgrund der Lebensumstände, die ihn dort als international Schutzberechtigten erwarten würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC zu erfahren. Allein der Umstand, dass die Lebensverhältnisse in diesem Mitgliedstaat nicht den Bestimmungen der Art.20 ff. im Kapitel VII der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.20119 – Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU – gerecht werden, führt angesichts der fundamentalen Bedeutung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu einer Einschränkung der Ausübung der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU vorgesehenen Befugnis, solange die Schwelle der Erheblichkeit des Art. 4 GRC nicht erreicht ist. Vielmehr darf jeder Mitgliedstaat – vorbehaltlich außergewöhnlicher Umstände – davon ausgehen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten. Diese Vermutung gilt im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems auch bei der Anwendung des Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU. Verstöße gegen Bestimmungen des Kapitels VII der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU, die nicht zu einer Verletzung von Art. 4 GRC führen, hindern die Mitgliedstaaten daher nicht, ihre durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU eingeräumte Befugnis auszuüben. Gleiches gilt, wenn der Schutzberechtigte in dem Mitgliedstaat, der ihm internationalen Schutz gewährt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhält, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaates behandelt zu werden und der ernsthaften Gefahr einer gegen Art. 4 GRC verstoßenden Behandlung ausgesetzt zu sein10.

Systemische Mängel des Asylverfahrens selbst können zwar ein Vertragsverletzungsverfahren gegen den betreffenden Mitgliedstaat rechtfertigen, schränken aber die Befugnis der übrigen Mitgliedstaaten nicht ein, einen neuen Antrag als unzulässig abzulehnen11. Systemische oder allgemeine oder bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen fallen nur dann unter Art. 4 GRC, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falls abhängt und die dann erreicht wäre, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaates zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist selbst bei durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren die betreffende Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann12.

Bei der Beurteilung der Frage, ob diese Schwelle im vorliegenden Fall überschritten ist, hat der Verwaltungsgerichtshof zu Recht angenommen, dass die im Hinblick auf Abschiebungsverbote aufgestellte Regelvermutung einer gemeinsamen Rückkehr der Kernfamilie in den Herkunftsstaat auf die Prognose einer Rückkehr in einen anderen Mitgliedstaat zu übertragen ist. Die hierzu vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Grundsätze13 finden auch im Rahmen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG Anwendung14.

Der Prognose, welche Gefahren einem Ausländer bei Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen, ist eine – zwar notwendig hypothetische, aber doch – realitätsnahe Rückkehrsituation zugrunde zu legen. Lebt der Ausländer auch in Deutschland in familiärer Gemeinschaft mit der Kernfamilie, ist hiernach – obwohl das nationale Recht keinen „Familienabschiebungsschutz“ kennt – für die Bildung der Prognose der hypothetische Aufenthalt des Ausländers im Herkunftsland in Gemeinschaft mit den weiteren Mitgliedern dieser Kernfamilie zu unterstellen. Art. 6 GG gewährt zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt, enthält aber als wertentscheidende Grundsatznorm, dass der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, und gebietet die Berücksichtigung bestehender familiärer Bindungen bei staatlichen Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung. Bereits für die Bestimmung der voraussichtlichen Rückkehrsituation ist daher im Grundsatz davon auszugehen, dass ein nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK besonders schutzwürdiger Familienverband aus Eltern mit ihren minderjährigen Kindern nicht aufgelöst oder gar durch staatliche Maßnahmen zwangsweise getrennt wird. Die Mitglieder eines solchen Familienverbandes werden im Regelfall auch tatsächlich bestrebt sein, ihr – grundrechtlich geschütztes – familiäres Zusammenleben in einem Schutz- und Beistandsverband entweder im Bundesgebiet oder im Herkunftsland fortzusetzen. Diese Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr als Grundlage der Prognose setzt eine familiäre Gemeinschaft voraus, die zwischen den Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Kernfamilie) bereits im Bundesgebiet tatsächlich als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft (fort-)besteht und infolgedessen die Annahme rechtfertigt, sie werde bei einer Rückkehr in das Herkunftsland dort fortgesetzt werden. Für eine in diesem Sinne „gelebte“ Kernfamilie reichen allein rechtliche Beziehungen, ein gemeinsames Sorgerecht oder eine reine Begegnungsgemeinschaft nicht aus. Maßgeblich ist für die typisierende Betrachtung im Rahmen der Rückkehrprognose nicht der – nicht auf Kernfamilien beschränkte – Schutzbereich des Art. 6 GG und des Art. 8 EMRK. Bestehende, von familiärer Verbundenheit geprägte enge Bindungen jenseits der Kernfamilie mögen ebenfalls durch nach Art. 6 GG schutzwürdige besondere Zuneigung und Nähe, familiäre Verantwortlichkeit füreinander, Rücksichtnahme- und Beistandsbereitschaft geprägt sein, rechtfertigen für sich allein aber nicht die typisierende Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr. Diese ist andererseits der Prognose auch dann zugrunde zu legen, wenn einzelnen Mitgliedern der Kernfamilie bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder für diese ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist15. Diese Rechtsprechung ändert nichts daran, dass ein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG eine individuelle Rechtsposition begründet, die nur auf Gefahren gestützt werden kann, die dem Ausländer selbst drohen16. Vielmehr geht es lediglich darum, die aus der Anwesenheit von Angehörigen der Kernfamilie und der anzunehmenden Erfüllung grundlegender familiärer Solidarpflichten resultierenden Folgen für die Existenzsicherung des Antragstellers selbst in die Gefahrenprognose einzubeziehen17.

Dieses von der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte geprägte Verständnis ist nicht nur der im Rahmen von § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG anzustellenden Gefahrenprognose, sondern ebenso bei der rechtlichen Beurteilung der bei einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG im Hinblick auf Art. 4 GRC drohenden Gefahrenlage zugrunde zu legen. Angesichts der Wertungen, die Art. 6 GG und Art. 8 EMRK für die Interpretation der hier maßgeblichen nationalen und unionsrechtlichen Vorschriften vorgeben, ist für eine abweichende, nur die Situation des Adressaten der Unzulässigkeitsentscheidung berücksichtigende Prognosebasis grundsätzlich kein Raum, da sie nicht nur an der Lebenswirklichkeit, sondern auch an zwingenden verfassungsrechtlichen Vorgaben vorbeiginge.

Allerdings kann der an den Fortbestand der familiären Lebensgemeinschaft geknüpfte Regelfall einer gemeinsamen Rückkehr im Familienverband insbesondere dann nicht mehr vorliegen, wenn – unter Beachtung der hierzu in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Grundsätze – der Konventions- und Grundrechtsschutz familiärer Bindungen etwa aus Gründen der öffentlichen Sicherheit zurückzutreten hat und eine zur Trennung des Familienverbandes führende Abschiebung rechtlich zulässig wäre. Näherer Betrachtung mögen bei tatsachengestütztem Missbrauchsverdacht auch Fälle bedürfen, in denen die familiäre Lebensgemeinschaft nicht schon im Herkunftsland bestanden hat, sondern erst nach der Einreise begründet worden ist, oder es sich nicht um leibliche Kinder zumindest eines Ehegatten handelt18.

Nicht mit Bundesrecht vereinbar ist die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs, die angefochtene Unzulässigkeitsentscheidung verstoße gemessen an den dargelegten Maßstäben gegen Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK. Dieses Ergebnis wird von den tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs nicht getragen und genügt daher den revisionsrechtlichen Anforderungen im Hinblick auf die richterliche Überzeugungsbildung nicht19. Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK erfordern entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichtshofs bei der Rückführung von Familien mit Kindern nicht stets und unabhängig von der aktuellen Erkenntnislage und den Umständen des Einzelfalls eine individuelle Zusicherung oder eine allgemeine Erklärung der Behörden des aufnehmenden Mitgliedstaates. Die auf dieser Grundlage entwickelte entscheidungstragende Feststellung des Verwaltungsgerichtshofs, es sei zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage (§ 77 Abs. 1 AsylG) nicht sichergestellt, dass bei einer Rückkehr des Nigerianers nach Italien gemeinsam mit seiner Kernfamilie deren besonderer, sich bereits aus dem Alter der 2013 und 2015 in Italien geborenen Kinder ergebender Versorgungsbedarf gedeckt sei, stützt sich auf eine unzureichende, zu schmale Tatsachengrundlage.

Die Frage, wann, orientiert am Maßstab der Grundrechte und der Europäischen Menschenrechtskonvention, hinreichend sichergestellt ist, dass die Unterbringung und Versorgung einer Familie mit Kindern bei einer Überstellung nach Italien gewährleistet ist, muss unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls, hier der allgemeinen Aufnahmebedingungen in Italien und der besonderen Lage des jeweiligen Ausländers beantwortet werden20. Insbesondere setzt eine zulässige Rückführung nach Italien entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs nicht stets und unabhängig von der aktuellen Erkenntnislage eine individuelle Zusicherung oder eine schriftliche Erklärung der zuständigen Behörde des schutzgewährenden Mitgliedstaates der Europäischen Union voraus. Das hierfür maßgebliche Kriterium der besonderen Schutzbedürftigkeit extrem verwundbarer Personen konkretisiert die menschenrechtlichen Mindestanforderungen an die Aufnahmemodalitäten, die bei Familien mit Kleinstkindern21 andere sein können als bei solchen mit Kindern im Jugendalter oder, erst recht, bei alleinstehenden Erwachsenen22. Im Einzelfall kann daher eine konventionsgemäße Behandlung der Betroffenen durch eine Zusicherung der Behörden des Aufnahmestaates zu gewährleisten sein. An dieser Rechtsprechung hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte unter jeweils ausdrücklicher Bezugnahme auf sein Leiturteil im Fall „Tarakhel“ auch in den von der Beklagten angeführten Entscheidungen vom 23.03.2021 (Nr. 46595/19, M. T.); und vom 20.04.2021 (Nr. 41100/19, A. B.) festgehalten. Hiervon kann insbesondere bei der Rückführung einer Familie mit Kleinstkindern auszugehen sein23. Vorrangig ist aber regelmäßig zu prüfen, ob auf der Grundlage der aktuellen Auskunftslage zu den Aufnahmebedingungen in Italien unter Berücksichtigung der individuellen Situation des oder der Schutzberechtigten unmenschliche oder erniedrigende Lebensbedingungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind; nur dann stellt sich die Frage einer einzelfallbezogenen Zusicherung. An einer solchen Ermittlung und Würdigung der aktuell in Italien zu erwartenden Lebensbedingungen für anerkannte Schutzberechtigte fehlt es hier.

Zudem hat der Verwaltungsgerichtshof ausschließlich die Situation der Kinder des Nigerianers in den Blick genommen und nicht näher erörtert, weshalb ihm selbst bei einer Rückführung nach Italien eine Gefahr im Sinne des Art. 4 GRC droht. Nur in diesem Falle wäre die angefochtene Unzulässigkeitsentscheidung rechtswidrig. Der bloße Hinweis des Verwaltungsgerichtshofs, der Nigerianer befände sich bei einer Rückführung nach Italien in einer Situation, die einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung „gleichzustellen“ wäre, entbehrt einer tatsächlichen Grundlage und reicht daher nicht aus.

Der Verwaltungsgerichtshof wird in dem erneuten Berufungsverfahren die gesamten Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen haben. Hierzu gehört neben der allgemeinen Lage in Italien in erster Linie die persönliche Situation des Nigerianers, in die dieser im Falle einer Rückkehr nach Italien geraten wird. Dabei wird namentlich zu berücksichtigen sein, dass der Nigerianer nach den Feststellungen des Berufungsgerichts neun Jahre in Italien gelebt und gearbeitet hat und nach eigenen Angaben dort auch Familienmitglieder und Freunde leben. Denn Ausländer können sonst bei Rückführungen in andere Mitgliedstaaten – anders als bei einer Rückführung in ihre Herkunftsländer – regelmäßig weder auf verwandtschaftliche Hilfe noch auf ein soziales Netzwerk bei der Suche nach einer Unterkunft für die Zeit unmittelbar nach ihrer Rückkehr zurückgreifen24. Weiter wird das erreichte Alter der 2013 und 2015 geborenen Kinder in den Blick zu nehmen sein, die zudem in Italien geboren sind; eines der Kinder ist während seiner ersten Lebensjahre dort aufgewachsen. Schließlich wird auf die im Revisionsverfahren mitgeteilte neue Tatsache der schweren Herz- und Nierenerkrankung der Ehefrau des Nigerianers einzugehen sein.

Der Verwaltungsgerichtshof wird gegebenenfalls zudem der Frage nachzugehen haben, ob der an den Fortbestand der familiären Lebensgemeinschaft geknüpfte Regelfall nicht oder nicht mehr vorliegt25. Sollten sich hierfür Anhaltspunkte ergeben – etwa im Hinblick darauf, dass der Nigerianer erst mehrere Jahre nach seiner Frau und den beiden Kindern nach Deutschland eingereist ist, oder mit Blick auf die von der Beklagten geltend gemachte Abweichung der Meldeadressen des Nigerianers einerseits, der Familienangehörigen andererseits, werden diese ebenfalls vom Verwaltungsgerichtshof zu würdigen sein.

Die Aufhebung der in dem angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellung des Verwaltungsgerichtshofs, es lägen keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor, steht mit Bundesrecht ebenfalls nicht im Einklang. Auch insoweit fehlt es namentlich im Hinblick auf § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK an hinreichenden tatsächlichen Feststellungen, die der Verwaltungsgerichtshof nunmehr zu treffen haben wird.

Die – teilweise – Aufhebung der gegenüber dem Nigerianer ergangenen Abschiebungsandrohung durch den Verwaltungsgerichtshof verstößt gegen Bundesrecht. Zum einen hätte die negative Bezeichnung des Staates Nigeria nicht von der Aufhebung ausgenommen werden dürfen. Zum anderen ist die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung an § 34 AsylG in der nach Ergehen des Berufungsurteils am 27.02.2024 in Kraft getretenen Fassung zu messen, die sich aus Art. 2 Nr. 9, Art. 11 Abs. 1 des Rückführungsverbesserungsgesetzes vom 21.02.202426 ergibt. Rechtsänderungen, die nach der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts eintreten, sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Revisionsverfahren zu berücksichtigen, wenn das Tatsachengericht – entschiede es anstelle des Revisionsgerichts – sie seinerseits zu berücksichtigen hätte. Da es sich vorliegend um eine asylrechtliche Streitigkeit handelt, bei der das Tatsachengericht nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung abzustellen hat, müsste es seiner Entscheidung, wenn es sie nunmehr träfe, die aktuelle Rechtslage zugrunde legen.

§ 34 AsylG ist auf die angefochtene Abschiebungsandrohung ergänzend anzuwenden. Sie findet ihre unmittelbare Rechtsgrundlage in § 35 AsylG i. V. m. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. § 35 AsylG verdrängt die Regelungen des § 34 AsylG nicht, sondern ergänzt und modifiziert sie für den Fall der Unzulässigkeit eines Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG, indem sie den Zielstaat der angedrohten Abschiebung bestimmt. In verfahrensrechtlicher Hinsicht ergeht die Abschiebungsandrohung bei nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG unzulässigen Asylanträgen ohne umfassende Sachprüfung des Asylbegehrens27.

Die allgemeinen Regelungen des § 34 AsylG gelten damit für die asylverfahrensrechtliche Abschiebungsandrohung auch bei Unzulässigkeit des Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG, soweit sich aus den §§ 35 bis 37 AsylG keine Besonderheiten ergeben28. § 35 AsylG regelt die formale und inhaltliche Ausgestaltung einer asylverfahrensrechtlichen Abschiebungsandrohung in den Fällen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG nur zum Teil. Die Vorschrift setzt die Einhaltung weiterer Vorgaben des § 34 AsylG – beispielsweise hinsichtlich der Schriftform und der Entbehrlichkeit der Anhörung – voraus, mit der Folge, dass § 34 AsylG ergänzend anzuwenden ist29.

Das Bundesverwaltungsgericht kann nicht selbst über die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung entscheiden. Sie hängt zunächst von der Rechtmäßigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung und der Feststellung des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten in dem angefochtenen Bescheid ab. Soweit das erneute Berufungsverfahren wiederum zur Aufhebung der genannten Regelungen führt, kann die Abschiebungsandrohung schon aus diesem Grund keinen Bestand haben (vgl. im Hinblick auf die Unzulässigkeitsentscheidung § 35 AsylG und auf die Feststellung von Abschiebungsverboten § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG). Sollte dies nicht der Fall sein, bestimmt sich die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung unter anderem nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG i. V. m. § 59 AufenthG. Danach ist Voraussetzung, dass der Abschiebung weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen noch der Gesundheitszustand des Ausländers entgegenstehen, es sei denn der Ausländer ist nach § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG aufgrund oder infolge einer strafrechtlichen Verurteilung ausreisepflichtig (Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RL 2008/115/EG). Hinsichtlich der gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG maßgeblichen Umstände, namentlich des Kindeswohls und der familiären Bindungen des Nigerianers, fehlt es indessen an tragfähigen tatsächlichen Feststellungen, die der Verwaltungsgerichtshof ebenfalls zu treffen haben wird, soweit sich die Voraussetzungen der Norm im erneuten Berufungsverfahren als entscheidungserheblich erweisen.

Über die Vereinbarkeit des gegenüber dem Nigerianer ergangenen Einreise- und Aufenthaltsverbots mit revisiblem Recht kann das Bundesverwaltungsgericht ebenfalls nicht abschließend entscheiden, da sie von der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung abhängt.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 24. April 2024 – 1 C 8.23

  1. Fortführung von BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 – 1 C 45.18, BVerwGE 166, 113
  2. VG Stuttgart, Urteil vom 12.04.2021 – 1 K 664/20
  3. VGH Baden-Württemberg,  Urteil vom 07.07.2022 – 4 S 3696/21
  4. vgl. BVerwG, Urteil vom 13.12.2023 – 1 C 34.22 22 ff.
  5. vgl. BVerwG, Urteil vom 13.12.2023 – 1 C 34.22 21
  6. vgl. BVerwG, Urteil vom 20.05.2020 – 1 C 34.19, Buchholz 402.251 § 29 AsylG Nr. 11 Rn. 15 ff.
  7. ABl. L 180 S. 60
  8. vgl. EuGH, Beschluss vom 13.11.2019 – C-540/17 u. a. [ECLI:​​EU:​​C:​​2019:​​964], Hamed u. a., Rn. 35; Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17 u. a. [ECLI:​​EU:​​C:​​2019:​​219], Ibrahim u. a., Rn. 88
  9. ABl. L 337 S. 9
  10. EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17 u. a., Rn. 83 ff. und Beschluss vom 13.11.2019 – C-540/17 u. a., Rn. 34
  11. EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17 u. a., Rn. 95 ff.
  12. vgl. BVerwG, Urteil vom 20.05.2020 – 1 C 34.19, Buchholz 402.251 § 29 AsylG Nr. 11 Rn.19 unter Bezugnahme auf EuGH, Urteile vom 19.03.2019 – C-297/17 u. a., Rn. 89 ff. und – C-163/17 [ECLI:​​EU:​​C:​​2019:​​218], Jawo, Rn. 91 ff. sowie Beschluss vom 13.11.2019 – C-540/17 u. a., Rn. 39
  13. BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 – 1 C 45.18, BVerwGE 166, 113 Rn. 14 ff.
  14. anders BayVGH, Urteil vom 04.03.2024 – 24 B 22.30376 25 ff.
  15. vgl. BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 – 1 C 45.18, BVerwGE 166, 113 Rn. 15 ff. m. w. N.
  16. vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 16.06.2004 – 1 C 27.03, NVwZ 2004, 1371
  17. vgl. näher BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 – 1 C 45.18, BVerwGE 166, 113 Rn. 26 f.
  18. BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 – 1 C 45.18, BVerwGE 166, 113 Rn. 23
  19. vgl. BVerwG, Urteil vom 08.09.2011 – 10 C 14.10, BVerwGE 140, 319 Rn. 21
  20. EGMR , Urteile vom 04.11.2014 – Nr. 29217/12, Tarakhel, NVwZ 2015, 127 Rn. 105, EGMR, Urteile vom 24.05.2018 – Nr. 68862/13, N. T. P. – NJOZ 2020, 152 Rn. 42; und vom 28.02.2019 – Nr. 12267/16, Khan, NVwZ 2020, 617 Rn. 80 ff., 93
  21. vgl. EGMR , Urteil vom 04.11.2014 – Nr. 29217/12, NVwZ 2015, 127 Rn. 99, 119 und Beschluss vom 13.01.2015 – Nr. 51428/10, A. M. E., Rn. 34
  22. vgl. EGMR, Urteil vom 02.07.2020 – Nr. 28820/13 u. a., N. H. u. a., NVwZ 2021, 1121
  23. vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 27.05.2015 – 2 BvR 3024/14 u. a. 7
  24. vgl. EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-163/17, Rn. 47, 94; BVerfG, Kammerbeschluss vom 17.09.2014 – 2 BvR 1795/14 13
  25. vgl. BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 – 1 C 45.18, BVerwGE 166, 113 Rn. 23
  26. BGBl. I Nr. 54
  27. vgl. BVerwG, Urteil vom 04.09.2012 – 10 C 13.11, NVwZ-RR 2013, 431 Rn. 16
  28. vgl. BVerwG, Urteile vom 15.01.2019 – 1 C 15.18, BVerwGE 164, 179 Rn. 48; und vom 13.12.2023 – 1 C 34.22 25
  29. vgl. Pietzsch, in: Kluth/​Heusch, Beck-OK AuslR, Stand April 2023, § 35 AsylG Rn. 2; Hailbronner, AuslR, Stand August 2022, § 35 AsylG Rn. 2; Funke-Kaiser, in: Fritz/​Vormeier, GK-AsylG, Stand März 2018, § 35 Rn. 6