Verlängerung einer von vorneherein zu kurz bemessenen Überstellungshaft
Ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot in Freiheitsentziehungssachen liegt nicht vor, wenn die Ausländerbehörde in der unzutreffenden Annahme, eine Abschiebung zu einem früheren Zeitpunkt durchführen zu können, obwohl diese (objektiv) von Anfang an nicht vor Ende der ursprünglichen Haftanordnung durchführbar war, zunächst eine objektiv zu kurze Haft beantragt und später deren Verlängerung erwirken muss.
Dieser Entscheidung des Bundesgerichtshofs lag der Fall einer irakischen Staatsangehörigen zugrunde. Diese reiste am 13.04.2021 in das Bundesgebiet ein. Ihren Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 19.07.2021 wegen der Zuständigkeit Rumäniens nach der Dublin-III-Verordnung ab und ordnete ohne Gewährung einer Ausreisefrist ihre Überstellung nach Rumänien an. Das hiergegen von der Betroffenen eingelegte Rechtsmittel hatte keinen Erfolg. Eine für den 11.01.2022 geplante Überstellung nach Rumänien auf dem Luftweg scheiterte am Verhalten der Betroffenen. Auf Antrag der beteiligten Behörde ordnete das Amtsgericht mit Beschluss vom selben Tag Überstellungshaft gegen die Betroffene bis einschließlich 28.01.2022 an. Nach Buchung eines Flugs zur Überstellung der Betroffenen unter Sicherheitsbegleitung für den 3.02.2022 hat die beteiligte Behörde mit einem beim Amtsgericht am 18.01.2022 per Telefax eingegangenen Schreiben die Verlängerung der Sicherungshaft bis zum 3.02.2022 beantragt. Mit Beschluss vom 21.01.2022 hat
Das Amtsgericht Bingen am Rhein hat die Überstellungshaft antragsgemäß verlängert1. Die – nach ihrer Überstellung nach Rumänien am 3.02.2022 zuletzt auf Feststellung gerichtete Beschwerde der Betroffenen gegen diesen Beschluss hat das Landgericht Mainz zurückgewiesen2. Die hiergegen erhobene Rechtsbeschwerde der Betroffenen wies der Bundesgerichtshof als unbegründet zurück:
Zu Recht hat das Landgericht Mainz den der Haftverlängerung im Beschluss vom 21.01.2022 zugrundeliegenden Haftantrag für zulässig erachtet.
Ein zulässiger Haftantrag der beteiligten Behörde ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zur zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungs- oder Überstellungsvoraussetzungen, zur Erforderlichkeit der Haft, zur Durchführbarkeit der Abschiebung oder Überstellung und zur notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Diese Darlegungen dürfen zwar knapp gehalten sein; sie müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte ansprechen3. Dazu müssen die Darlegungen auf den konkreten Fall bezogen sein und dürfen sich nicht in Leerformeln erschöpfen4.
Diesen Anforderungen wird der Antrag der beteiligten Behörde vom 18.01.2022 gerecht. Insbesondere wird das konkrete Datum des Fluges, für den die Betroffene über die Zentralstelle für Flugabschiebungen angemeldet wurde, nämlich der 3.02.2022, angegeben, sodass die Dauer der Haft aus sich heraus nachvollziehbar ist. Da es sich um einen sicherheitsbegleiteten Flug handelte und die Gesamtdauer der geplanten Haft einen Zeitraum von sechs Wochen nicht überschritt, bedurfte es keiner weiteren Erläuterung des für die Organisation der Rückführung einschließlich Flugbuchung erforderlichen Zeitaufwands5.
Soweit im Haftantrag nicht angegeben worden ist, dass die Betroffene seit etwa vier bis fünf Wochen schwanger war, führt dies nicht zur Unzulässigkeit des Haftantrags und zur Rechtswidrigkeit der Haftanordnung. Zudem hat die beteiligte Behörde diese Information dem Amtsgericht mit ergänzendem Schreiben vom 20.01.2022 mitgeteilt, was, wenn darin ein Mangel gelegen hätte, zu dessen Heilung vor der richterlichen Anhörung der Betroffenen am 21.01.2022 geführt hätte6.
Der Haftantrag ist auch nicht wegen eines Verstoßes gegen § 14b Abs. 1 Satz 1 FamFG formunwirksam. Wie der Bundesgerichtshof zwischenzeitlich entschieden hat, müssen entsprechende Anträge der zuständigen Verwaltungsbehörde in Freiheitsentziehungssachen dem Gericht nicht nach dieser Vorschrift als elektronisches Dokument übermittelt werden; vielmehr reicht die Einreichung nach den allgemeinen Vorschriften gemäß § 14b Abs. 2 FamFG aus7.
Keinen Erfolg hatte vor dem Bundesgerichtshof ferner die Rüge, die beteiligte Behörde habe durch ihre Verfahrensgestaltung dem Beschleunigungsgebot nicht hinreichend Rechnung getragen.
Dieses Gebot verlangt, dass die Behörde die Abschiebung oder Überstellung ohne vermeidbare Verzögerung betreibt und die Dauer der Sicherungshaft auf das unbedingt erforderliche Maß beschränkt wird. Ein Verstoß führt dazu, dass die Haft aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht weiter aufrechterhalten werden darf8.
Das Landgericht Mainz hat im Ergebnis zu Recht angenommen, dass im Streitfall ein solcher Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot nicht festzustellen ist.
Allerdings verkennt das Landgericht Mainz bei seiner Begründung, dass der Haftrichter aufgrund der Amtsermittlungspflicht aus § 26 FamFG bei Haftverlängerungsanträgen auch zu prüfen hat, aus welchen Gründen die Verlängerung einer bereits angeordneten Haft beantragt wird. Liegt die Ursache für das Verlängerungsbedürfnis in Umständen, die aus der Sphäre der die Abschiebung oder Überstellung betreibenden Behörde stammen oder ihr zumindest zurechenbar sind9, und führen diese zu einer Verzögerung des Verfahrens dergestalt, dass es zu einer objektiven Verlängerung der Haftdauer kommt, die ein besonnener und sorgfältiger Amtswalter bei der Organisation und Durchführung der Abschiebung hätte vermeiden können, ist die weitere Haft unverhältnismäßig und darf die Verlängerung einer bereits bestehenden Haft nicht angeordnet werden10.
Eine Verzögerung in diesem Sinne liegt aber nicht schon dann vor, wenn die Ausländerbehörde in der unzutreffenden Annahme, eine Abschiebung zu einem früheren Zeitpunkt durchführen zu können, obwohl diese (objektiv) von Anfang an nicht vor Ende der ursprünglichen Haftanordnung durchführbar war, zunächst eine objektiv zu kurze Haft beantragt und später deren Verlängerung erwirken muss.
Danach ist vorliegend das Beschleunigungsgebot nicht verletzt worden. Das Landgericht Mainz hat festgestellt, dass es sich bei dem am 3.02.2022 gebuchten Flug um den frühestmöglichen Zeitpunkt für die begleitete Überstellung der Betroffenen gehandelt hat. Dies greift die Rechtsbeschwerde nicht ausreichend mit der Verfahrensrüge an. Sie macht geltend, aus der E-Mail der Zentralstelle für Flugabschiebungen vom 18.01.2022 an die beteiligte Behörde ergebe sich, dass der Bundespolizei bei der Organisation des Fluges nicht bekannt war, dass die Haft (ursprünglich) nur bis 28.01.2022 angeordnet worden sei. Daraus schließt sie aber zu Unrecht, die Überstellung der Betroffenen hätte bis zum 28.01.2022 erfolgen können, wenn die Haftzeit der Bundespolizei mitgeteilt worden wäre. Denn in der E-Mail wird weiter ausgeführt, dass „mit den vom BAMF vorgegebenen Überstellungsmodalitäten (…) eine Rückführungsplanung vor dem 03.02.2022 nicht möglich“ sei. Damit war ersichtlich gemeint, dass die Bundespolizei davon ausging, die Rückführung selbst sei frühestens am 3.02.2022 durchführbar.
Schließlich greift auch der Einwand der Rechtsbeschwerde nicht durch, das Landgericht Mainz hätte dem – im Hinblick auf die unterbliebene Benachrichtigung eines Angehörigen oder einer Vertrauensperson durch das Amtsgericht – im Tenor aufgeführten Verstoß gegen Art. 104 Abs. 4 GG bei der Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens Rechnung tragen müssen. Zwar verleiht Art.104 Abs. 4 GG dem Festgehaltenen ein subjektives Recht auf Benachrichtigung eines Angehörigen oder einer Person seines Vertrauens. Da die mit Verfassungsrang angeordnete Benachrichtigungspflicht selbständig neben die Entscheidung über die Freiheitsentziehung tritt, ist auf Antrag ein Verstoß – wie durch das Landgericht Mainz geschehen – festzustellen11. Ein Verstoß gegen Art. 104 Abs. 4 GG berührt jedoch nicht den sachlichen Gehalt der angegriffenen Entscheidung des Amtsgerichts über die Haftanordnung selbst. Daher ist über die Feststellung einer Verletzung von Art. 104 Abs. 4 GG durch Unterlassen der Benachrichtigung hinaus keine weitere Rechtsfolge auszusprechen12. Im vorliegenden Beschwerdeverfahren über die Haftanordnung hat das Landgericht Mainz diesen im Tenor festgestellten Verstoß somit bei der Kostenentscheidung zu Recht unberücksichtigt gelassen.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20. Februar 2024 – XIII ZB 29/22
- AG Bingen a.Rh., Beschluss vom 21.01.2022 – 110 XYV 6/22 B↩
- LG Mainz, Beschluss vom 03.03.2022 – 8 T 31/22↩
- st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 15.09.2011 – V ZB 123/11, InfAuslR 2012, 25 Rn. 8; vom 12.11.2019 – XIII ZB 5/19, InfAuslR 2020, 165 Rn. 8; vom 14.07.2020 – XIII ZB 74/19 7↩
- st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 27.10.2011 – V ZB 311/10, FGPrax 2012, 82 Rn. 13; vom 20.04.2021 – XIII ZB 36/20 6 mwN↩
- vgl. BGH, Beschlüsse vom 20.09.2018 – V ZB 4/17, InfAuslR 2019, 23 Rn. 11; vom 14.07.2020 – XIII ZB 74/19 7↩
- vgl. BGH, Beschlüsse vom 15.09.2011 – V ZB 136/11, InfAuslR 2011, 471 Rn. 8; vom 12.02.2020 – XIII ZB 16/19, InfAuslR 2020, 241 Rn. 12↩
- vgl. BGH, Beschluss vom 05.12.2023 – XIII ZB 45/22 6 bis 10↩
- st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 10.06.2010 – V ZB 205/09 16; vom 11.07.2019 – V ZB 28/18 7; vom 24.06.2020 – XIII ZB 9/19 12↩
- vgl. BGH, Beschlüsse vom 07.04.2011 – V ZB 111/10, NVwZ 2011, 1214 Rn. 13; vom 30.06.2011 – V ZB 274/10, FGPrax 2011, 315 Rn. 25; vom 17.10.2013 – V ZB 172/12, InfAuslR 2014, 52 Rn. 15↩
- vgl. auch OLG Zweibrücken, Beschluss vom 03.07.2006 – 3 W 109/06, InfAuslR 2006, 234 Rn. 10; Winkelmann/Broscheit in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl., § 62 AufenthG Rn. 22↩
- vgl. nur BVerfG, Beschlüsse vom 14.05.2020 – 2 BvR 2345/16, InfAuslR 2020, 343 Rn. 42, 45; vom 18.12.2023 – 2 BvR 656/20 10 bis 12, 15 f.; BGH, Beschluss vom 21.01.2016 – V ZB 6/14, FGPrax 2016, 88 Rn. 11↩
- BVerfG, InfAuslR 2020, 343 Rn. 45; Beschluss vom 18.12.2023 – 2 BvR 656/2019; BGH, FGPrax 2016, 88 Rn. 12↩