Ingewahrsamnahme eines ausreisepflichtigen Ausländers – ohne richterliche Anordnung

Für den schwersten Eingriff in das Recht auf Freiheit der Person, die Freiheitsentziehung, fügt Art. 104 Abs. 2 GG dem Vorbehalt des (förmlichen) Gesetzes aus Art. 104 Abs. 1 GG den weiteren, verfahrensrechtlichen Vorbehalt einer richterlichen Entscheidung hinzu, der nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht1.

Das dient der verstärkten Sicherung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Art. 104 Abs. 2 GG ist unmittelbar geltendes und anzuwendendes Recht2. Alle staatlichen Organe sind daher verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass der Richtervorbehalt als Grundrechtssicherung praktisch wirksam wird3.

Die Freiheitsentziehung erfordert grundsätzlich eine vorherige richterliche Anordnung4, sodass die – zunächst – allein durch die Exekutive veranlasste Freiheitsentziehung eine rechtfertigungsbedürftige Ausnahme darstellt5. Eine nachträgliche richterliche Entscheidung ist nur dann zulässig, wenn der mit der Freiheitsentziehung verfolgte verfassungsrechtlich zulässige Zweck andernfalls nicht erreichbar wäre6.

Ob der Zweck der Freiheitsentziehung bei Abwarten einer richterlichen Entscheidung nicht erreicht werden kann und daher die Freiheitsentziehung ausnahmsweise ohne vorherige gerichtliche Anordnung erfolgen darf, bestimmt sich danach, ab wann die Ausländerbehörde eine Haftanordnung frühestmöglich hätte erwirken können. Maßgeblich ist, ob bezogen auf diesen Zeitpunkt der Zweck der Freiheitsentziehung gefährdet worden wäre, wenn die Ausländerbehörde sogleich eine richterliche Entscheidung beantragt hätte und diese zeitnah ergangen wäre7. Umgekehrt wird der Richtervorbehalt nicht ausgelöst, wenn und solange unklar ist, ob die Abschiebungs- und Abschiebungshaftvoraussetzungen vorliegen8.

 Dass eine vorherige richterliche Haftanordnung in Fällen der ungeplanten Festnahme eines untergetauchten Betroffenen nicht erforderlich ist, ist fachrechtlich anerkannt9. Gegen diese Rechtsauffassung bestehen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken, solange das Untertauchen des Betroffenen mit Unklarheiten hinsichtlich des Vorliegens der Abschiebungs- oder Abschiebungshaftvoraussetzungen, insbesondere der Möglichkeit einer zeitnahen Abschiebung, einhergeht. Die Situation einer ungeplanten Festnahme stellt sich unter dieser Voraussetzung als eine solche Situation dar, bei der die Einholung einer richterlichen Haftanordnung vor der Festnahme den Zweck der Maßnahme – die Sicherung der Abschiebung – gefährden würde: Erst in diesem und für diesen Moment verdichtet sich die Erkenntnislage für die zuständige Behörde dahingehend, dass das Vorliegen der Abschiebungs- und Abschiebungshaftvoraussetzungen feststeht. Gleichzeitig kann die Behörde des Betroffenen typischerweise nur in diesem Moment habhaft werden. Der Umstand allein, dass eine Festnahme ungeplant erfolgt, rechtfertigt die Ingewahrsamnahme verfassungsrechtlich jedoch noch nicht. Vielmehr bleibt maßgeblich, ob der Zweck der Freiheitsentziehung durch die Einholung einer richterlichen Entscheidung gefährdet worden wäre.

 

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 10. Februar 2022 – 2 BvR 2247/19

  1. vgl. BVerfGE 10, 302 <323>
  2. vgl. BVerfGE 10, 302 <329> 149, 293 <332 f. Rn. 95>
  3. vgl. BVerfGE 103, 142 <151 f.> 105, 239 <248> 139, 245 <267 f. Rn. 64> 149, 293 <333 Rn. 96>
  4. vgl. nur BVerfGE 10, 302 <321> 22, 311 <317> 105, 239 <248>
  5. vgl. Mehde, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: Januar 2021, Art. 104 Rn. 76; vgl. auch Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl.2018, Art. 104 Rn. 43; Radtke, in: BeckOK GG, Art. 104 Rn.20, Mai 2021
  6. vgl. BVerfGE 22, 311 <317> 105, 239 <248> 149, 293 <334 Rn. 98>
  7. vgl. BVerfG, Beschluss vom 07.05.2009 – 2 BvR 475/09, Rn. 18; Beschluss vom 07.05.2009 – 2 BvR 2367/07, Rn.19
  8. vgl. BVerfG, Beschluss vom 07.05.2009 – 2 BvR 475/09, Rn.19
  9. vgl. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 18.08.2009 – 3 W 129/09 8 f.; OLG Hamm, Beschluss vom 15.12.2009 – I-15 Wx 333/09 4 ff.; Bergmann/Putzar-Sattler, in: Huber/Mantel, AufenthG, 3. Aufl.2021, § 62 Rn. 45; Drews, in: Prütting/Helms, FamFG, 5. Aufl.2020, § 428 Rn. 3; Göbel, in: Keidel, FamFG, 20. Aufl.2020, § 427 Rn. 12