Abschiebehaft – und der Grundsatz des fairen Verfahrens
Hat das Amtsgericht unter Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens eine Haftanordnung im Hauptsacheverfahren erlassen, anstatt – wie geboten – vorläufig über die Freiheitsentziehung zu entscheiden, muss es – wenn sich in der Folge ein Rechtsanwalt für den Betroffenen meldet – im Abhilfeverfahren eine erneute Anhörung unter Beiziehung des Rechtsanwalts durchführen, um den Verstoß zu heilen.
Der Grundsatz des fairen Verfahrens garantiert jedem Betroffenen das Recht, sich in einem Freiheitsentziehungsverfahren von einem Bevollmächtigten seiner Wahl vertreten zu lassen und diesen zu der Anhörung hinzuzuziehen1. Erfährt oder weiß das Gericht, dass der Betroffene einen Rechtsanwalt hat, muss es dafür Sorge tragen, dass dieser von dem Termin in Kenntnis gesetzt und ihm die Teilnahme an der Anhörung ermöglicht wird; gegebenenfalls ist unter einstweiliger Anordnung einer nur kurzen Haft nach § 427 FamFG ein neuer Termin zu bestimmen2. Vereitelt das Gericht durch seine Verfahrensgestaltung eine Teilnahme des Bevollmächtigten an der Anhörung, führt dies ohne Weiteres zur Rechtswidrigkeit der Haft; es kommt in diesem Fall nicht darauf an, ob die Anordnung der Haft auf diesem Fehler beruht3.
Diesen Maßgaben hat die Verfahrensweise des Amtsgerichts nicht entsprochen.
Zwar hat es den im Haftantrag benannten Bevollmächtigten des Betroffenen von dem Anhörungstermin informiert. Der Bevollmächtigte hat nicht erklärt, an der Anhörung teilnehmen zu wollen. Das Amtsgericht war daher nicht zur Verlegung des Anhörungstermins verpflichtet. Der Verzicht seines Bevollmächtigten auf eine Teilnahme an der Anhörung ist dem Betroffenen gemäß § 11 Satz 5 FamFG, § 85 ZPO zuzurechnen4.
Nachdem der Betroffene aber die Vollmacht seines Verfahrensbevollmächtigten im Termin gemäß § 11 Satz 5 FamFG, § 87 Abs. 1 ZPO widerrufen und nach der Belehrung über sein Recht, einen Rechtsanwalt hinzuzuziehen, erklärt hatte, er wolle einen Anwalt hinzuziehen, einen Freund um Rat fragen und die Benennung eines Rechtsanwalts nachholen, lag es nunmehr so, dass der Betroffene keinen Anwalt hatte und nach Belehrung keine eindeutige Erklärung abgab. Die protokollierte Erklärung kann nämlich entweder so zu verstehen sein, dass der Betroffene auf sein Recht auf anwaltlichen Beistand bei der Anhörung verzichten und lediglich für den späteren Verfahrensverlauf einen Anwalt hinzuziehen wolle. Sie konnte aber auch bedeuten, dass der Betroffene eine Anhörung nur im Beisein eines Rechtsanwalts wünschte. Das hätte das Amtsgericht aufklären müssen. Es durfte nicht aus dem Umstand, dass der Betroffene weiter an der Anhörung mitwirkte, ohne weiteres auf einen Verzicht schließen. Wenn der Betroffene einen solchen nicht erklären wollte, hätte das Amtsgericht ihm Gelegenheit geben müssen, sich anwaltlichen Beistand zu suchen. Hätte der Betroffene danach einen Rechtsanwalt benannt, hätte dieser zum Termin hinzugezogen werden müssen. Wäre dies nicht möglich gewesen, hätte das Amtsgericht die Haft nicht endgültig, sondern nur im Wege einer einstweiligen Anordnung vorläufig (§ 427 FamFG) anordnen dürfen5. Dabei hätte es – nachdem der Betroffene keinen zu seiner Vertretung im Anhörungstermin bereiten Rechtsanwalt hatte – die Dauer der einstweiligen Haft so bemessen dürfen, dass für die Suche eines zur Vertretung bereiten Rechtsanwalts ausreichend Gelegenheit bestand.
Nachdem das Amtsgericht den Willen des Betroffenen nicht aufgeklärt hat und daher offengeblieben ist, ob der Betroffene einen Anwalt zu seiner Anhörung hinzuziehen wollte, ist zur wirksamen Sicherung des verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechts auf ein faires Verfahren zu vermuten, dass ihm der Zugang zu einem Anwalt verwehrt wurde. Denn es ist nicht offensichtlich, dass der Betroffene, selbst wenn ihm das Amtsgericht bei der Anhörung hierzu Gelegenheit gegeben hätte, nicht in der Lage gewesen wäre, einen Anwalt zu finden, der bereit gewesen wäre, an einer Anhörung teilzunehmen. Das kann vor dem Hintergrund, dass Rechtsanwältin B. die beantragte Akteneinsicht nicht gewährt worden ist, auch nicht daraus abgeleitet werden, dass sie weder im Abhilfeverfahren noch im Beschwerdeverfahren die Durchführung einer erneuten Anhörung beantragt hat.
Der Einwand der beteiligten Behörde, in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem eine relativ kurze Haftdauer – hier von sechs Wochen und drei Tagen – angeordnet worden sei, sei nicht nachvollziehbar, aus welchen Gründen die Anordnung einer lediglich vorläufigen Freiheitsentziehung der Anordnung einer Haft in der Hauptsache im Hinblick auf die Wahrung der Interessen des Betroffenen vorzuziehen sei, greift nicht durch. Die beteiligte Behörde verkennt, dass eine rechtmäßige Haftanordnung im Hauptsacheverfahren dazu führt, dass eine erneute Anhörung nicht mehr durchzuführen ist, dem Betroffenen also der Beistand eines Rechtsanwalts in diesem Fall (endgültig) versagt würde. Entscheidet der Haftrichter dagegen nur für einen Zeitraum von bis zu sechs Wochen vorläufig über eine Freiheitsentziehung, muss – sobald sich ein Rechtsanwalt bestellt und die Durchführung einer Anhörung beantragt hat – gemäß § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG erneut eine Anhörung stattfinden6. Nur durch eine solche Verfahrensweise kann daher dem berechtigten Verlangen des Betroffenen nach der Hinzuziehung eines Rechtsanwalts zur persönlichen Anhörung und damit dem Grundsatz des fairen Verfahrens hinreichend Rechnung getragen werden.
Dass dem Betroffenen ein Verfahrenspfleger (§ 418 Abs. 2, § 419 Abs. 1 FamFG) bestellt worden war, steht der Annahme eines Verstoßes gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens nicht entgegen. Rechtsstellung und Funktion eines Verfahrenspflegers unterscheiden sich grundlegend von derjenigen eines Verfahrensbevollmächtigten. Der Bestellung eines Verfahrenspflegers kommt in Freiheitsentziehungssachen Ausnahmecharakter zu und sie erfolgt unabhängig von den Wünschen des Betroffenen in der Regel nur dann, wenn die Fähigkeit des Betroffenen zur Wahrnehmung seiner Interessen – etwa aus gesundheitlichen Gründen – beeinträchtigt ist. Bloße sprachliche Verständigungsschwierigkeiten rechtfertigen eine Bestellung nicht. Die Aufgabe des Verfahrenspflegers besteht (lediglich) darin, die verfahrensmäßigen Rechte des Betroffenen zur Geltung zu bringen; dazu gehört insbesondere der Anspruch des Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs7. Demgegenüber ist der Verfahrensbevollmächtigte der berufene unabhängige Berater und Vertreter des Betroffenen (§ 3 Abs. 1 BRAO, § 10 Abs. 2 Satz 1 FamFG), der seine (rechtlichen) Interessen vollumfänglich wahrzunehmen hat. Vor diesem Hintergrund kann die Bestellung eines Verfahrenspflegers die von dem Betroffenen gewünschte Hinzuziehung eines Rechtsanwalts von vornherein nicht ersetzen.
Eine Heilung des Verfahrensfehlers – die mit Wirkung für die Zukunft möglich gewesen wäre8 – ist im vorliegenden Fall weder im Abhilfeverfahren noch in der Beschwerdeinstanz erfolgt. Bereits das Amtsgericht hätte den Betroffenen im Abhilfeverfahren – nach Gewährung von Akteneinsicht – unter Beiziehung seiner Rechtsanwältin erneut anhören müssen. Nachdem das nicht erfolgt war, hätte jedenfalls das Beschwerdegericht die Anhörung durchführen müssen9. Wäre die Verfahrensbevollmächtigte B. zu einem anberaumten Termin nicht erschienen, hätte allerdings die Annahme nahegelegen, dass es dem Betroffenen nicht gelungen wäre, einen zur Teilnahme an einem Termin bereiten Rechtsanwalt zu finden.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 22. Februar 2022 – XIII ZB 74/20
- vgl. BGH, Beschlüsse vom 10.07.2014 – V ZB 32/14, InfAuslR 2014, 442 Rn. 8; vom 12.11.2019 – XIII ZB 34/19 7; vom 06.10.2020 – XIII ZB 21/19 14↩
- vgl. BGH, Beschlüsse vom 25.10.2018 – V ZB 69/18, InfAuslR 2019, 152 Rn. 5; vom 07.04.2020 – XIII ZB 84/19 9 f.; vom 15.12.2020 – XIII ZB 28/20 16↩
- vgl. BGH, Beschlüsse vom 06.04.2017 – V ZB 59/16, InfAuslR 2017, 292 Rn. 7; vom 12.11.2019 – XIII ZB 34/19 7↩
- BGH, Beschluss vom 23.03.2021 – XIII ZB 66/20 7↩
- BGH, Beschlüsse vom 07.04.2020 – XIII ZB 84/19 10; vom 15.12.2020 – XIII ZB 123/19, InfAuslR 2021, 242 Rn. 12↩
- Göbel in Keidel, FamFG, 20. Aufl., § 427 Rn. 4↩
- BGH, Beschluss vom 26.09.2013 – V ZB 212/12, FGPrax 2014, 37 Rn. 9 ff.↩
- vgl. BGH, Beschluss vom 18.02.2016 – V ZB 23/15, InfAuslR 2016, 235 Rn. 25↩
- vgl. BGH, Beschluss vom 11.10.2017 – V ZB 167/16 9↩