Abschiebung – und das nach § 154 StPO eingestellte Strafverfahren

Im Hinblick auf Ermittlungsverfahren, die nach § 154 StPO eingestellt sind, bedarf es für die Abschiebung keines staatsanwaltschaftlichen Einvernehmens.

Nach einer Auffassung besteht das Beteiligungserfordernis nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG allerdings bezüglich sämtlicher nur vorläufig eingestellter Ermittlungsverfahren in gleicher Weise wie bei laufenden Ermittlungsverfahren1.

Nach der Gegenmeinung löst ein nach § 154 StPO vorläufig eingestelltes Ermittlungsverfahren das Beteiligungserfordernis des § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG hingegen nicht aus2.

Der Bundesgerichtshof tritt der letztgenannten Auffassung bei.

Die Beteiligung der Staatsanwaltschaft dient allein der Wahrung des staatlichen Strafverfolgungsinteresses3. § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG will sicherstellen, dass die Staatsanwaltschaft Strafverfahren abschließen kann, bei denen das öffentliche Strafverfolgungsinteresse das Interesse an der sofortigen Abschiebung überwiegt4. Hat die Staatsanwaltschaft jedoch ein Ermittlungsverfahren nach § 154 StPO eingestellt und nicht wiederaufgenommen, so hat sie selbst zum Ausdruck gebracht, dass aus ihrer Sicht insoweit kein öffentliches Strafverfolgungsinteresse besteht.

Dass nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Hinblick auf ein gemäß § 154f StPO vorläufig eingestelltes Ermittlungsverfahren vor einer Abschiebung das Einvernehmen der zuständigen Staatsanwaltschaft einzuholen ist5, steht dieser Einschätzung nicht entgegen. Zwar handelt es sich auch bei einer Einstellung nach § 154 StPO um eine vorläufige Einstellung. Ein durch Gerichtsbeschluss nach § 154 Abs. 2 StPO eingestelltes Verfahren kann nämlich unter den Voraussetzungen des § 154 Abs. 3 und 4 StPO wiederaufgenommen werden6, und bei einer Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft nach § 154 Abs. 1 StPO genügt für eine Wiederaufnahme bereits das Vorliegen eines sachlich einleuchtenden Grundes7. Die materiellen Voraussetzungen für eine Verfahrenseinstellung nach den genannten Normen und der dahinterstehende Gesetzeszweck unterscheiden sich jedoch in erheblicher Weise. Während eine Einstellung nach § 154f StPO an die temporäre objektive Unmöglichkeit der Strafverfolgung anknüpft, indem sie voraussetzt, dass der Eröffnung oder Durchführung des Hauptverfahrens für längere Zeit die Abwesenheit des Beschuldigten oder ein anderes in seiner Person liegendes Hindernis entgegensteht, dient die vorläufige Verfahrenseinstellung nach § 154 StPO allein der Verfahrensökonomie. Hier wäre die Durchführung der Hauptverhandlung ohne Weiteres möglich, da der Beschuldigte greifbar ist; der Ermittlungsbehörde wird jedoch aus Gründen der Effizienz die Möglichkeit eingeräumt, die Durchsetzung des staatlichen Strafverfolgungsinteresses zurückzustellen8.

Im Übrigen führt das etwaige Fehlen eines nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderlichen Einvernehmens der Staatsanwaltschaft allein nicht zur Rechtswidrigkeit einer Haftanordnung, da es sich bei diesem Beteiligungserfordernis nicht um eine freiheitsschützende Verfahrensvorschrift im Sinne des Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG handelt, deren Verletzung stets auch eine Verletzung der Freiheit der Person darstellte9. Unerheblich ist daher, ob die von der beteiligten Behörde benannten Einvernehmenserklärungen tatsächlich vorlagen und die übrigen Ermittlungsverfahren tatsächlich nach § 154 Abs. 1 Nr. 1 StPO eingestellt waren.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 6. Oktober 2020 – XIII ZB 31/20

  1. vgl. Kaniess, Abschiebungshaft, Rn. 152; HK-AuslR/Hofmann, 2. Aufl., § 72 AufenthG Rn. 34 mit Fn. 61
  2. vgl. VGH München, Beschluss vom 25.10.2006 – 19 CS 06.2240 21; VGH Mannheim, Urteil vom 06.11.2012 – 11 S 2307/1119 und 62 [insoweit in DVBl.2013, 189 nicht abgedruckt]; LG Bielefeld, Beschluss vom 17.10.2013 – 23 T 265/1319
  3. vgl. BGH, Beschluss vom 12.02.2020 – XIII ZB 15/19, InfAuslR 2020, 242 Rn. 17, unter Verweis auf BVerwG, Urteil vom 14.12.2016 – 1 C 11/15 24
  4. vgl. BGH, Beschlüsse vom 24.02.2011 – V ZB 202/10, FGPrax 2011, 146 Rn. 22; und vom 12.03.2015 – V ZB 197/14, FGPrax 2015, 181 Rn. 5
  5. vgl. BGH, Beschluss vom 13.09.2018 – V ZB 231/17, FGPrax 2019, 43 Rn. 5
  6. vgl. BGH, Beschluss vom 25.01.2006 – 1 StR 438/05, NStZ-RR 2007, 20
  7. vgl. BGH, Urteil vom 18.04.1990 – 3 StR 252/88, BGHSt 37, 10, 13, und Beschluss vom 30.04.2009 – 1 StR 745/08, BGHSt 54, 1, 7, jeweils mwN
  8. vgl. dazu Mavany in Löwe/Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 154 Rn. 1; MünchKomm-StPO/Teßmer, § 154 Rn. 2, jeweils mwN
  9. vgl. dazu ausführlich BGH, Beschluss vom 12.02.2020 – XIII ZB 15/19, InfAuslR 2020, 242 Rn. 12 ff.